"Swiss IT Magazine": Herr Gür, wo stehen wir heute bei der Entwicklung des nächsten Mobilfunkstandards 6G?Gürkan Gür: Die Forschung und Entwicklung im Bereich 6G ist sehr aktiv. So gibt es beispielsweise die 6G Smart Networks and Services Industry Association (6G-IA), die als Sprachrohr der europäischen Industrie und Forschung für Netze und Dienste der nächsten Generation fungiert. Oder die Next G Alliance in Nordamerika als Initiative des Privatsektors. Und auch die Hersteller von Mobilfunkgeräten und Software arbeiten an neuen Systemen und Technologien, die über 5G hinausgehen. Insgesamt geht man davon aus, dass die 6G-Spezifikationen bis zu den 2030er Jahren vorliegen werden. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Entwicklung von 2G, 3G, 4G, 5G und auch 6G nicht in einem Kontinuum stattfindet: Wir setzen die Entwicklung von Lösungen und Technologien dort fort, wo wir aufgehört haben, und versuchen gleichzeitig, neue Herausforderungen und Anwendungen anzugehen. Wir fangen also nicht bei null an.
Können wir also 2030 mit den ersten praktischen Anwendungen rechnen? Und wann wird ein öffentliches 6G-Netz aufgebaut?
Ich glaube, dass die Entwicklung und die anschliessende Einführung der 6G-Infrastruktur und der 6G-gestützten Anwendungen schrittweise erfolgen werden, so wie wir es auch bei den 5G-Netzen erlebt haben. Die Prognose ist, dass die Kernspezifikationen bis 2030 fertig sind und dann erste Testinstallationen erfolgen, um zu sehen, wie die Dinge unter realen Bedingungen laufen und funktionieren. Auf Grundlage von Anwendungsfällen, Nachfrage und Geschäftsbedingungen werden die Mobilfunkbetreiber dann im folgenden Jahrzehnt schrittweise 6G-Systeme einführen. Für ein genaues Datum benötigt man allerdings eine Kristallkugel.
Ein Blick auf die Hintergründe: Was zeichnet 6G technisch aus? In Hinblick auf Übertragungsgeschwindigkeiten, aber natürlich auch darüber hinaus. Nun, das ist eine gute Frage, über die die Industrie und die Wissenschaft aktuell noch diskutieren. Als wichtigste Aspekte der 6G-Netze können wesentlich bessere Konnektivität und Effizienz aufgeführt werden. Die R&D-Community sieht beispielsweise extrem hohe Datenübertragungsraten im Bereich Terabit per second, eine viel höhere Verbindungsdichte – 107 Geräte pro Quadratkilometer –, Latenzzeiten unter einer Millisekunde und eine hundertfache Energieeffizienz der Netze im Vergleich zu 5G-Systemen. Bitte betrachten Sie diese Zahlen aber als repräsentative Werte und nicht als endgültig, da sie nach wie vor diskutiert werden. Nebenbei bemerkt ist die Übertragungsgeschwindigkeit ohnehin eine schwierige Kennzahl für drahtlose Netze, da es ja Mobilität und daher viele Möglichkeiten gibt, die Übertragungsgeschwindigkeit zu definieren und zu messen. Beispielsweise bewegen sich die Teilnehmer mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Denken Sie daran, dass Sie die Verbindung verlieren können, während Sie auf einer deutschen Autobahn rasen. Daher sprechen wir bei drahtlosen Netzen stattdessen von verschiedenen Metriken wie zum Beispiel der Spitzendatenrate und der Area Traffic Capacity.
Sie haben bereits einige Punkte angesprochen: Wie unterscheidet sich 6G letztlich von 5G?
Der wichtigste technische Unterschied ist die Leistung. Es gibt keine andere Technologie, die einen so signifikanten Leistungssprung ermöglicht. Wir sprechen von einer Verschmelzung verschiedenster Faktoren wie KI/ML, Cloudifizierung, Quantentechnologien, Reconfigurable Intelligent Surfaces und neuen Funktechnologien wie THz-Kommunikation und Open-RAN. Es gibt aber auch evolutionäre Aspekte, zum Beispiel ist das Konzept der grünen Netze nicht neu, aber es wird erwartet, dass es tief in die 6G-Systeme integriert wird, und zwar als Schlüsselanforderung und nicht nur als Nice to have.
Aber schon der 5G-Standard wurde als Revolution beworben. Braucht es wirklich schon den nächsten technologischen Schritt?Auch das ist eine gute Frage. In unserer Community gibt es dazu eine laufende Debatte. Die Leute sagen: "Brauchen wir wirklich fortschrittlichere Systeme, um lustige Katzenvideos auf unseren Handys anzusehen?" Aber das Gesamtbild ist viel komplexer und vielschichtiger. So sehen wir für die Zukunft anspruchsvollere und neuartige Anwendungen wie Holographic Presence, ferngesteuerte Roboterchirurgie, authentische VR-Erlebnisse oder eine massive Konnektivität im Rahmen des Konzeptes des Internet of Everything (IoE), bei dem Billionen von intelligenten Objekten in unserem täglichen Leben ständig miteinander verbunden sind und mit uns und anderen Objekten interagieren. Ein gutes Beispiel dafür ist das Szenario einer nachhaltigen und resilienten, intelligenten Stadt. Ausserdem sind die 5G-Spezifikationen in verschiedenen Bereichen noch stark verbesserungswürdig. So sollten Mobilfunkbetreiber in der Lage sein, Billionen von Geräten beziehungsweise Verbindungen effizienter und sicherer zu handhaben. Daher gibt es immer noch technische Herausforderungen, die angegangen werden müssen. Eine dieser spezifischen Fragestellungen ist die Zuweisung von Frequenzen. Wir brauchen neuartige Funktechnologien, die in verschiedenen Frequenzen wie den THz-Bändern arbeiten, um mehr Kapazität für fortschrittlichere mobile Anwendungen zu erreichen. Dies ist eine technische Meisterleistung in Bezug auf den Entwurf von Schaltkreisen – für die drahtlosen Kommunikationskomponenten in Mobilgeräten – und Signalverarbeitungsalgorithmen. Die Eigenschaften des drahtlosen Kanals haben in dieser Umgebung einen grossen Einfluss. Ein anschauliches Beispiel sind die Erfahrungen mit WiFi: Wenn Sie ein 2,4-GHz-WiFi-Netz anstelle eines 5-GHz-Netzes verwenden, werden Sie feststellen, dass der Signalempfang besser ist und Sie auch hinter Hindernissen wie Mauern verbunden bleiben können. Das liegt an den unterschiedlichen Ausbreitungseigenschaften der Funksignale bei verschiedenen Frequenzen. Zumindest habe ich diese Erfahrung im oberen Stockwerk des Sommerhauses meiner Mutter gemacht.
Gibt es noch weitere Entwicklungspunkte?Ein weiteres Beispiel sind die geplanten integrierten satellitengestützten und terrestrischen Netze in 6G-Systemen. Die Arbeit in diesem Feld begann mit 5G, wird aber bei 6G-Systemen von grundlegender Bedeutung sein. Stellen Sie sich einen gemeinsamen Standard vor, bei dem Sie auf Ihrem Mobilgerät über LEO-Mega-Satellitenkonstellationen zusätzlich zu einer terrestrischen Verbindung eine Satellitenverbindung mit extrem hoher Geschwindigkeit und niedriger Latenz nutzen können. Seit kurzem ermöglicht Starlink einigen Nutzern eine solch allgegenwärtige Konnektivität, aber 6G soll das zu einem offenen Standard und zu einem Bestandteil Ihres Standard-Mobilgeräts machen. Ein ähnliches Thema sind die Energieeffizienz und die Integration der Energieoptimierung in die gesamte Mobilfunkinfrastruktur mit dem Ziel eines Netto-Null-Betriebs in 6G-Systemen.
Fernab von Katzenvideos: Sprechen wir zum Start also hauptsächlich von professionellen Anwendungen in der Medizin und der Industrie oder auch von Use Cases für Privatanwender?
Anfangs werden sich 6G-Technologien wahrscheinlich über professionelle Premium-Anwendungen durchsetzen, bei denen der ROI für die Mobilfunkbetreiber höher und der Nutzen für die Anwender greifbarer ist. Sobald sich die Technologie aber zu einem Massenprodukt entwickelt, wird sie auch viel billiger, verfügbarer und transparenter für die Nutzer, die die neuen Leistungsniveaus überall und jederzeit geniessen können.
Gehen wir kurz auf die zuvor genannte Verbindung von 6G und KI/ML ein, die immer wieder zur Sprache kommt. Wie hängen diese Technologien zusammen?Wenn man so komplexe und allgegenwärtige Systeme wie 6G hat, sind KI und ML wirklich entscheidend, um sie auf intelligente Weise und mit minimalem menschlichem Eingriff zu verwalten, zu steuern und zu optimieren. Aber das ist natürlich leichter gesagt als getan. Erstens sind Entwicklung, Training und Einsatz von KI-Modellen nicht trivial. Ihre Performance ist nicht garantiert. Vor allem die Trainingsphase kann sehr viele Ressourcen, wie zum Beispiel Energie, verbrauchen. Dabei wollten wir ja eigentlich ein grünes Netz entwickeln, nicht wahr? Fairness ist ein weiteres grosses Problem: Kann die KI beispielsweise bei der Zuweisung von Kapazitäten an verschiedene Nutzer gerecht vorgehen? Und auch der Datenschutz ist eine Herausforderung: KI braucht Daten, um zu lernen, was wiederum zu Problemen mit dem Datenschutz führen kann. Robustheit und Sicherheit sind ebenfalls wichtige Anforderungen. Können Angreifer KI-Modelle beispielsweise austricksen, indem sie ihnen erfundene Eingaben geben, damit sie falsche Entscheidungen treffen? An diesen Aspekten arbeite ich mit 13 Partnern aus EU-Ländern im internationalen Projekt NATWORK (Anm.d.Red,: Net-Zero self-adaptive activation of distributed self-resilient augmented services), das von Horizon Europe - 6G SNS, SERI und UKRI finanziert wird. Wir versuchen, die Grundlagen zu schaffen und das erste wirtschaftlich realistische, energieeffiziente und praktikable bioinspirierte KI-basierte 6G-Cybersicherheits- und -Resilienz-Framework für intelligente Netzwerke und Dienste umzusetzen.
Und sehen Sie über die technischen Anforderungen hinaus Hürden auf dem Weg zur Einführung von 6G und natürlich auch dem anschliessenden Aufbau einer flächendeckenden Infrastruktur?Die Business-Anforderungen und die wirtschaftliche Rechtfertigung für neue Investitionen – zum Beispiel die Entwicklung von Geschäftsmodellen und attraktiven 6G-fähigen Anwendungen – werden für die Einführung von 6G neben den technischen Herausforderungen, die auf dem Weg dorthin zu lösen sind, entscheidend sein. Es gibt aber auch den gesellschaftlichen Aspekt, bei dem wir klar und ausgewogen kommunizieren müssen, was diese neuen Technologien sind. Ich erinnere mich zum Beispiel an Berichte von Leuten, die glauben, dass 5G-Basisstationen Covid-19-Infektionen verursachen. Obwohl solche Überzeugungen ohne wissenschaftliche Grundlage komisch erscheinen mögen, können sie bei der Einführung jeder neuen Technologie zu tatsächlichen Reibungen führen. Auf persönlicher Ebene sehe ich als Forscher im Bereich der Informationssicherheit zudem die Resilienz und Sicherheit dieser Systeme als zentrale Herausforderung. Denn 6G-basierte digitale Dienste sollen immerhin das Rückgrat unseres täglichen Lebens sein und kritische Anwendungen bedienen.
Herr Gür, eine abschliessende Frage mit Blick auf Konkurrenztechnologien: Wird 6G vor dem Hintergrund der genannten Leistungssprünge und Fähigkeiten Internetverbindungen über Kabel in Zukunft überflüssig machen?Eine klare Antwort: Nein. Für den Endnutzer, den wir als letzte Meile bezeichnen, ist ein kabelgebundener Hochgeschwindigkeitszugang – zum Beispiel über einen Glasfaseranschluss – immer ein Teil der Lösung. Ausserdem ist es immer gut, über Alternativen und redundante Technologien zu verfügen, um die Ausfallsicherheit zu gewährleisten. Für die Kommunikationsinfrastruktur sind Hochgeschwindigkeitskabelverbindungen ebenfalls unerlässlich. Nur so können wir die riesigen Datenmengen, die in den Basisstationen gesammelt werden, zu den Rechenzentren und zu anderen Maschinen im Internet transportieren. In grösserem Massstab sind Datenübertragungskabel mit grosser Kapazität im Internet-Backbone, also beispielsweise Untersee-Glasfaserkabel zwischen Ländern, für das einwandfreie Funktionieren des globalen Internets mit höchster Performance ebenfalls unentbehrlich. Inzwischen ergreifen staatliche Akteure sogar aktive Massnahmen zum Schutz dieser Anlagen als kritische Infrastruktur, da sie in feindseligen Situationen ins Visier genommen werden können.
6G-Testbetrieb unter Extrembedingungen
Im Rahmen des Projektes EIVE-T haben Forschende und Studierende der Universität Stuttgart Anfang Jahr in den österreichischen Alpen die bisher leistungsstärkste 6G-Richtfunkverbindung demonstriert. Dabei wurde eine Breitband-Funkverbindung zwischen dem Tal Götzens und dem Hafelekargipfel über eine Distanz von zweimal 10,5 Kilometer realisiert, die Daten mit einer Geschwindigkeit von 25 Gb/s übertragen hat.
"Ein 6G-Netz könnte die Art und Weise, wie wir kommunizieren und mit der Welt interagieren, grundlegend verändern, indem es eine zuverlässige und allgegenwärtige Hochgeschwindigkeits-Kommunikationsinfrastruktur schafft", erklärte Professor Ingmar Kallfass vom Institut für Robuste Leistungshalbleitersysteme (ILH). Durch die Kombination von Satelliten- und Breitbandkommunikation könnten entlegene Gebiete und städtische Umgebungen gleichermassen abgedeckt werden, was beispielsweise hochauflösendes Streaming, ferngesteuerte Drohnenflüge und Notrufe in abgelegenen Regionen ermöglicht.
Das Experiment in den Alpen ging jedoch mit erheblichen technischen Herausforderungen einher, insbesondere aufgrund der extremen winterlichen Bedingungen und der Notwendigkeit, dichte Wolkenschichten zu durchdringen. Ein speziell entwickelter Peilsender ermöglichte dabei die präzise Ausrichtung der Reflektorantenne auf dem Berg, wodurch eine robuste Verbindung ohne direkte Sichtlinie erreicht wurde. Die Demonstration der Technologie in den Alpen soll das enorme Potenzial der Technologie aufzeigen, zuverlässige und schnelle Datenverbindungen auch in den entlegensten Regionen der Welt zu ermöglichen.