Web 2.0 goes Enterprise
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/09
Die Wirtschaftswelt ist sich einig: Wissen – und zwar genau das Wissen, das für eine Aufgabe zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigt wird – ist einer der wesentlichsten Erfolgsfaktoren im globalen Wettbewerb. Eine technische, organisatorische und kulturelle Infrastruktur, die den nutzbringenden Wissensaustausch erleichtert, ist dementsprechend für Unternehmen aller Grössen und Branchen heute ein Muss.
In früheren Zeiten war Wissen ganz generell wenigen Privilegierten wie Mönchen und Königsberatern vorbehalten – weder gab es technisch die Möglichkeit, einen breiten Interessentenkreis mit Wissen zu versorgen, noch beherrschte das «gemeine Volk» essentielle Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben. Mit der Erfindung des Buchdrucks änderte sich viel – aber nach wie vor lagerten die meisten Erkenntnisse der Menschheit in muffigen Bibliothekskellern und liessen sich nur mit erheblichem Aufwand erschliessen.
Erst seit rund zweieinhalb Jahrzehnten ermöglicht die Informatik, Wissen platzsparend zu speichern und ortsunabhängig zu nutzen. Die eigentliche Revolution kam mit dem Internet, das sprichwörtlich «das gesamte Wissen der Menschheit» jedem Interessierten zugänglich macht. Damit verschwindet ein entscheidendes Problem aber nicht, es wird im Gegenteil sogar verstärkt: Es ist kaum einfacher, aus der globalen Informationsflut das wirklich Benötigte herauszufiltern, als in der Klosterbibliothek zwischen verstaubten Folianten das gesuchte Dokument zu finden.
Auch das bestbefüllte Content-Repository löst eines der gravierendsten Probleme ohnehin nicht: Das wertvollste Wissen steckt nicht in Dokumenten, sondern in den Gehirnen der Mitarbeiter. Ohne Menschen ist Knowledge-Management-Software nutzlos – und Menschen sind gerne spontan und bevorzugen oft das kreative Chaos statt rigider Ablagestrukturen. IT-Systeme zum unternehmensweiten oder organisationsübergreifenden Wissensmanagement sollten dieser menschlichen Arbeits- und Denkweise entgegenkommen, statt sie zu behindern.
Analoge Defizite gibt es bei der klassischen Kollaborationssoftware: Bevor ein Team softwaregestützt fruchtbringende Aktivitäten entfalten kann, muss es erst einmal zusammengestellt werden. Dies ist keine leichte Aufgabe: Vor allem bei Ad-hoc-Teams, die für jedes neue Projekt individuell organisiert werden, sowie bei sogenannten virtuellen Teams, deren Mitglieder über den Globus verteilt arbeiten und sich vor der Projektarbeit meist nicht einmal persönlich kennen, ist es schwierig, überhaupt die passenden Leute zu finden.
Bei beiden Problemkreisen erweisen sich verschiedene Technologien und Online-Anwendungen als nützlich, die gemeinhin unter dem Label «Web 2.0» oder «Social Computing» laufen:
- Wikis ermöglichen das Erstellen, Editieren und Kommentieren von Inhalten direkt im Web-Browser. Während die ersten Wiki-Systeme keine hierarchische Gliederung der erfassten Seiten erlaubten und kein detailliertes Berechtigungssystem boten, existieren heute diverse unternehmenstaugliche Lösungen, die sich in die firmenweite Directory-Infrastruktur (LDAP, ActiveDirectory) einbinden lassen. Damit lässt sich der Zugriff auf die zentral abgelegten Informationen projektweise eingrenzen. Die Wikis für den Firmeneinsatz bieten zudem einen Rich-Text-Editor, der den Umgang mit der zwar einfachen, aber für den Gelegenheitsanwender trotzdem ungewohnten Wiki-Syntax überflüssig macht.
Die Begriffe «Web 2.0» und «Social Computing» bezeichnen synonym den gleichen Sachverhalt: Sozial oder im Sinn von «2.0» neuartig ist dabei stets die Möglichkeit, dass die Teilnehmer selbst über eine leicht verständliche Oberfläche Inhalte erstellen, editieren, kommentieren, bewerten und mit anderen Inhalten verbinden können, ohne auf IT-Spezialisten zurückgreifen zu müssen. Im «Web 1.0» brauchte es dazu mindestens Kenntnisse in HTML, einen Texteditor, einen FTP-Client und viel Geduld. Es ist also in allererster Linie die Einfachheit im Umgang, die das neue Web auszeichnet.
IBM-Fellow Carol Jones nennt in einem Interview vom Januar 2007 drei grundlegende Technologien, die Social Computing möglich und attraktiv machen:
Enterprise-taugliche Wiki-Systeme sind sowohl für die Installation auf einem firmeninternen Server als auch in Form von Software as a Service erhältlich. Die meisten Lösungen stammen von kommerziellen Anbietern und bieten neben Wiki- auch Blogging-Funktionalität – ein Anbieter, nämlich Cyn.in, bezeichnet seinen Service deshalb als «Bliki».
Der selbsterklärte Marktführer heisst Socialtext – das System ist laut Hersteller «Global 2000 CIO approved», also weltweit bei 2000 grösseren Kunden im Einsatz. Das Produkt ist auch als gehosteter Service und in Form einer vorkonfigurierten Appliance erhältlich. Auch eine Open-Source-Variante namens Socialtext Open ist verfügbar. Der zweite grosse Player ist Atlassian mit dem Enterprise-Wiki Confluence, das laut Hersteller sogar mehr als 2500 Kunden hat und auch als Hosted-Service abonnierbar ist.
Einige Highlights der übrigen Wiki-zentrierten kommerziellen Social-Computing-Produkte: Customervision positioniert sein Produkt Bizwiki vor allem als unternehmensweite Lernplattform. Neben editierbaren Webseiten im Wiki-Stil, Blogs und Diskussionforen glänzt die Lösung mit einem Feature namens «Ask the Expert Workflow»: Die Benutzer können Fragen eingeben, die dann je nach Thema automatisch an einen geeigneten Mitarbeiter mit entsprechenden Kenntnissen weitergeleitet werden. Workflow-Funktionalität mit Genehmigungsablauf und E-Mail-Abstimmung gibt es auch in der neusten Version von Brainkeeper.
Centraldesktop ist eine ausgewachsene, gehostete Plattform auf Wiki-Basis, angereichert durch Calendaring, Projekt- und Task-
Management, Diskussionsboards und Realtime-Webconferencing. Eine ähnliche Funktionsvielfalt bietet Clearspace, allerdings nicht als Hosted-Service, sondern zur Installation auf einem eigenen Server, wobei die Lizenz pro User und Jahr abgegolten wird.
Technisch interessant sind die Produkte von Mindtouch und Mindroute. Deki bietet einen Outlook-Connector, ist auf besonders einfache Bedienung ausgelegt und lässt sich als virtuelles Image für den Vmware-Player herunterladen. Incentive ist die einzige Drittherstellerlösung in unserer Übersicht, die auf der .Net-Architektur basiert und sich somit besonders für Microsoft-Umgebungen eignet. Blogs und Wikis auf .Net-Basis stellt allerdings auch der Microsoft-eigene Sharepoint Server 2007 zur Verfügung.
Open-Source-Wikis mit Directory-Integration und anderen Sicherheitsfeatures sind angesichts der Fülle sonstiger Wiki-Implementierungen eher rar; als Beispiele haben wir TWiki (Perl) sowie Corendal Wiki und XWiki (beide Java) in die Übersicht aufgenommen. Gemäss der Projektwebsite ist TWiki bei grossen Unternehmen wie British Telecom, Disney, Motorola und SAP im Einsatz. Corendal Wiki zeichnet sich besonders durch seine enge Active-Directory-Integration aus: Auch verschachtelte ActiveDirectory-Gruppen werden in Echtzeit übernommen.
Social Networking mit Mitarbeiterprofilen und Suchmöglichkeit nach Kenntnissen und Fähigkeiten ist in erster Linie als Online-Service zu haben. Haystack Networking vom kleinen US-Hersteller Cerado und das etwas bekanntere Visible Path ermöglichen im Gegensatz zu den öffentlichen Services die Abgrenzung und Einschränkung auf unternehmensinterne Teilnehmer, damit man unter sich bleibt.
Social Networking für firmeneigene Server kommt erst allmählich in Schwung: Die umfassende Social-Computing-Suite Lotus Connections von IBM, die neben Mitarbeiterprofilen auch Blogs und Social Bookmarking bietet, steht kurz vor der Freigabe – wie IBM das Produkt bereits intern nutzt, lesen Sie in einem separaten Artikel ab Seite 44.
Auch Contens Relate, entwickelt vom deutschen CMS-Anbieter Contens, ist brandneu. Auch dieses Produkt fasst Profile mit Blogging, Diskussionsforen und Messaging unter einem Dach zusammen. Seit letztem Herbst angekündigt, aber erst in Form von Demos zu geniessen, ist die Web-2.0-Kollaborationssuite SuiteTwo. Sie wird von Intel finanziert und integriert nach dem Best-of-Breed-Ansatz Produkte und Services von verschiedenen Anbietern. Dazu zählen Newsgator und Simplefeed (RSS), Six Apart (Blog), Socialtext (Wiki), Visible Patch (Social Networking) und Spikesource (Plattformintegration). Dabei werden alle Produkte auf einer einheitlich gestalteten Plattform mit Single-Sign-On unter einem gemeinsamen Dach zusammengefasst.
Wikis, Blogs und Social Networking für den Unternehmenseinsatz