Seit ERP-Systeme in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrtausends aufgekommen sind, hat sich in der Unternehmenswelt vieles verändert. Nicht nur technologisch, sondern auch organisatorisch. Mittlerweile dienen ERP-Systeme nicht mehr nur der Materialbedarfsplanung oder der Produktionssteuerung, sondern sind als Cloud-Lösungen für die meisten Unternehmensprozesse äusserst flexibel einsetzbar. Wie wichtig diese Flexibilität ist, hat sich vor etwas mehr als zwei Jahren gezeigt, als Unternehmen, Behörden und Institutionen sowie Privatpersonen aufgrund des Corona-Lockdowns nicht nur die Zusammenarbeit überdenken, sondern auch andere Prozesse von heute auf morgen verändern und dem Thema IT mehr Beachtung schenken mussten.
Vielen Organisationen wurde während dieser Zeit bewusst, dass im Prinzip bereits alle nötigen Informationen digital vorhanden sind, sodass alle wichtigen Geschäftsprozesse durch digitale Mittel abgedeckt werden können – und dass viele Funktionalitäten zwar einsatzbereit sind, aber nur zum Teil genutzt werden. Beispiele dafür sind Kreditoren- und HR-Prozesse, aber auch Zeiterfassungs- oder Spesenprozesse.
ERP-Systeme sollen Zukunft antizipieren
Die meisten Unternehmen decken mit ihren ERP-Systemen zwar alle gegenwärtigen Ansprüche ab. Doch externe Faktoren wie neue technologische Entwicklungen, neue Vorschriften, eine Pandemie oder interne Anforderungen wie eine engere Anbindung an Kunden und Lieferanten oder die Überalterung der Infrastruktur können den Anstoss geben, in Sachen Digitalisierung einen Schritt weiterzugehen.
Denn mit den technologischen Entwicklungen kommen neue Herausforderungen und Bedürfnisse auf Menschen und Unternehmen zu. Die Zukunft ist vernetzt, mobil und hocheffizient – gerade ERP-Systeme müssen die richtigen Antworten bereithalten und
die Zukunft bereits heute ein wenig antizipieren. Benutzerfreundlichkeit, breite Funktionalität sowie die Integration von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen sind dabei nur ein paar Stichworte, welche die Unternehmen künftig beschäftigen werden.
Lösungen ab der Stange bringen wenig
Einige Anbieter von ERP-Lösungen beschäftigen sich schon seit langem intensiv damit, alle möglichen Anforderungen der Geschäftswelt vorauszusehen und zu integrieren. Mit solchen Lösungen können Doppelspurigkeiten (mehrfache Erfassung derselben Daten) und Medienbrüche (Papier/digital) vermieden werden. Disziplinen und Funktionen, die bereits isoliert existieren, werden in den modernen Lösungen zusammengefasst und in ein riesiges Netzwerk gestellt. Komplexes wird automatisiert und es entsteht ein Ökosystem, das Menschen mit Menschen, Menschen mit Unternehmen und auch Unternehmen miteinander verbindet.
Die Beschaffung eines ERP-Systems ist vergleichbar mit einem Hausbau: Die Bauherrschaft entscheidet sich entweder für ein Fertighaus aus genormten Elementen oder lässt sich genau das Haus bauen, das ihren Anforderungen bis ins Detail entspricht. Die Voraussetzung für Letzteres ist, dass der Architekt mit den Auftraggebenden Visionen und Ziele diskutiert, diese von Grund auf versteht und als Richtschnur für seine Planung verwendet.
Bei der Einführung von ERP-Systemen gälte Genanntes genau so, doch leider wird nach wie vor zu oft nach dem Wasserfall-Modell vorgegangen: Der Kunde formuliert das Pflichtenheft, der IT-Partner leitet daraus eine Idee ab und stellt ein Hard- und Softwarekonzept zusammen, das danach implementiert wird. Dabei geht ein wichtiger Faktor gerne vergessen: Zwar kann das System alles, was es laut den Anforderungen leisten muss, aber in vielen Fällen bildet es die Abläufe im Unternehmen nur mangelhaft ab. Denn das Requirements Engineering mit seinen Bullet-Point-Anforderungslisten ist weit komplexer als erwartet und es drohen unerwartete Kostenfallen. So müssen beispielsweise eingespielte Prozesse mit grossem Aufwand an ERP-Lösungen angepasst werden statt umgekehrt. Die Folge: Die Akzeptanz der User muss mit einem aufwendigen Change-Management mühsam erarbeitet werden und die Schulung gestaltet sich zeit- und kostenintensiv.
Richtige Fragen sind matchentscheidend
Ein bewährtes System, um solche Stolperfallen zu vermeiden, ist das Prinzip der Prozessorientierung. In erster Linie geht es dabei darum, die Vision des Kunden für heute und auch morgen zu verstehen sowie eine Übersicht über das grosse Ganze zu gewinnen, um genau zu erfassen, was sein Business ist, wie er es betreibt und wie die internen Abläufe aussehen. Dabei ist es zentral, immer wieder die richtigen Fragen zu stellen und diese vorausschauend zu beantworten. Zum Beispiel «Was wäre, wenn …?» anstelle von «War unsere bisherige Lösung nicht gut genug?». Oder: «Was ist in fünf Jahren?» anstelle von «Wie lange läuft das System noch?».
Für all das braucht es eingehende Gespräche mit den Kunden. In diesen geht es vordergründig nicht um Systeme, Programme und Geräte, sondern um ihre Ideen und Ziele. Daher sollten diese Gespräche in erster Linie mit den Entscheidungsträgern im Unternehmen geführt werden. Dabei sollte die Diskussion noch nicht allzu tief ins Detail gehen. Ziel ist es, Verständnis für das Vorgehen zu schaffen sowie die Möglichkeit zu bieten, wichtige Anliegen zu platzieren. Gemeinsam werden grundsätzliche Entscheide gefällt und in einem Big-Picture-Konzept zusammengefasst. In dieser Phase soll zudem die Machbarkeit geklärt und eine Projektvision geschaffen werden.
Entscheidungsträger und Spezialisten involvieren
Aus der gemeinsamen Arbeit resultiert für den Kunden eine übersichtliche, illustrative Projektdokumentation. Diese beschreibt die abgebildeten Prozesse der Lösung verständlich und sollte nicht in einem Programmierer-Slang verfasst sein, sondern in der Sprache des Kunden. Das erleichtert es ihm, Abweichungen von seinen Vorstellungen zu erkennen, Änderungswünsche anzubringen und sein «Go» für das Projekt auf einer soliden Wissens- und Verständnisgrundlage zu geben.
In einer nächsten Phase geht es in die Tiefe. Zusammen mit einem Gremium aus Verantwortungsträgern, die für die Kernprozesse zuständig sind (zum Beispiel Leiter Marketing/Verkauf, HR, Logistik etc.) definieren die Solution Consultants basierend auf den Unternehmensprozessen aus dem Big-Picture praxisgetreue Geschäftsfälle und Abläufe, sogenannte Use Cases, die im System abgebildet werden müssen. Anhand dieser wird das Konzept verfeinert und definiert, was der Kunde damit erreichen will.
Iteratives Vorgehen ist empfehlenswert
Da die Use Cases jeweils sehr individuell sind, muss von Fall zu Fall entschieden werden, ob diese mit Standardsoftware oder mit einer individuellen Lösung abgedeckt werden sollen. Bei der Konzeption und der Realisierung empfiehlt sich ein iteratives Vorgehen. Dazu werden die Use Cases sinnvoll gruppiert und nach Prioritäten konzipiert und umgesetzt. Dadurch können dem Kunden laufend in sich abgeschlossene Arbeitspakete ausgeliefert werden und er kann diese testen und abnehmen. Dadurch entfällt das mühsame Formulieren von synthetischen Testfällen, weil die Use Cases gleich als Testfälle verwendet werden können.
Weil die Summe der Use Cases unter dem Strich auch die Summe der Prozesse ist, ist das ERP-System fertig, sobald alle Use Cases realisiert worden sind.
Übrigens: ERP-Systeme bieten nicht nur grossen Unternehmen hilfreiche Unterstützung. Kleine Unternehmen können ihre Prozesse ebenfalls mit ERP-Systemen abdecken. Auch bei namhaften Herstellern findet man erste Ausbauvarianten, teils sogar kostenlos. Dabei ermöglichen Cloud-Lösungen einen einfachen Einstieg mit den wichtigsten Basisfunktionen für die üblichen Standardprozesse. Ist das Unternehmen auf Wachstumskurs und braucht es zusätzliche Funktionen, wächst das System mit. Der modulare Aufbau mit speziellen Apps und vorteilhafte Lizenzmodelle helfen dabei, das System organisch zu erweitern und an neue Bedürfnisse anzupassen, ohne dass jedes Mal horrende Kosten anfallen.
Die Autoren
Reto Bossard startete seine Karriere bei OBT als Berater im Jahr 2000 und ab 2009 leitete er ein Abacus-Team am Standort Zürich. 2016 übernahm er die Bereichsleitung Abacus des Standortes und seit 2021 zeichnet er für den Abacus-Bereich aller OBT-Standorte verantwortlich. Reto Bossard ist Partner und Mitglied der Geschäftsleitung von
OBT.
Roger Kreier ist seit Oktober 2016 bei OBT tätig und verfügt über ein breites Know-how der Abacus-Produktepalette. Er bringt über zehn Jahre Erfahrung aus dem Abacus-Business als Berater und Projektleiter in verschiedenen Applikationen und Branchen mit.
Reto Bossard (links), Roger Kreier (rechts) von OBT. (Quelle: OBT)