Wie Etienne Auger erklärt, hat die Abteilung Research & Digitalisation die Aufgabe, innovative Konzepte und Lösungen zu entwickeln. Bei
Swissgrid bedeutet dies, mittels neuester Technologien sicherzustellen, dass das Schweizer Höchstspannungsnetz rund um die Uhr zuverlässig Strom transportieren kann. «Research & Digitalisation ist eine noch junge Abteilung, die Anfang 2019 gegründet wurde und derzeit aus acht Mitarbeitenden und einem Leiter besteht», sagt Auger. «Ich selbst bin im Jahr 2020 dazu gestossen. Wir sind nicht im operativen Betrieb eingegliedert und haben auch deshalb viel Freiraum, um Themen auszusuchen und im Rahmen von Proof-of-Concept-Projekten zu evaluieren, ob eine bestimmte Technologie oder Lösung für das Unternehmen einen Nutzen generieren könnte.»
Das Team beschäftigt sich unter anderem mit Data Science. Die Mitarbeitenden aggregieren alle möglichen Daten rund um die Stromnetze und werten diese aus. Andere Teammitglieder kümmern sich hingegen um die Hardware der Netze, wie etwa die Geräte und Transformatoren, die in den Unterwerken zum Einsatz kommen. «Swissgrid betreibt – verteilt über die gesamte Schweiz – 125 Unterwerke. Das grösste Unterwerk von Swissgrid erstreckt sich über eine Fläche von mehreren Fussballfeldern», so Auger.
Die Ausgangslage
Diese Unterwerke beherbergen unter anderem Transformatoren und mechanische Leistungsschalter, die regelmässig inspiziert und auf ihre Funktionstüchtigkeit hin überprüft werden müssen. «Um die Inspektionen durchzuführen, arbeitet
Swissgrid mit dem Know-how von externen Dienstleistern. Das Problem: Die Anlagen sind sehr heterogen. Das heisst, dass sie unterschiedliche Standards und Unterlagen aufweisen», sagt Etienne Auger. Für die regulären Inspektionen setzt Swissgrid auf Spezialisten, die einmal im Monat einen Kontrollgang in dem ihnen zugewiesenen Unterwerk machen. «Da wir aber in jeder Region einen anderen Dienstleister haben und dieser nicht immer dieselbe Person für die Inspektion einsetzt, ist eine Standardisierung der Inspektionen schwierig. Zwar haben alle dieselbe Checkliste, aber die Beurteilung einzelner Punkte ist noch immer sehr subjektiv.» Aus diesem Grund suchte Swissgrid aktiv nach Möglichkeiten, um die Datenqualität bei der Inspektion zu erhöhen.
Laut Auger wurde in einem ersten Schritt eine mobile Lösung mit SAP PM implementiert: «Die Dienstleister nutzen ein Tablet, auf dem sie die Checkliste abarbeiten können. Zudem können sie auch Fotos hochladen und einen Text erfassen, um bestimmte Checkpunkte genauer zu beschreiben. Der Prozess ist jedoch nicht geführt, es sind Freitext-Felder, die eine quantitative Auswertung der Schadensmeldung erschweren, weshalb wir diese Schadensmeldungen beispielsweise nicht mit einem bestimmten Gerätemodell korrelieren können.» Dieser Mangel an Standardisierung ist gemäss Auger das eigentliche Problem und hat ihn und sein Team dazu motiviert, mit Augmented Reality zu experimentieren.
Etienne Auger, Research & Digitalisation Manager, Swissgrid (Quelle: Swissgrid)
Die Lösung
«Wir hatten also digitalisierte Checklisten und wussten, dass es in der Schweiz Start-ups gibt, die Augmented-Reality-Lösungen entwickeln. Zudem lief bei uns parallel ein Building-Information-Modeling (BIM)-Projekt, in dessen Rahmen wir 3D-Modelle der Unterwerke generieren», so Auger. Das BIM-Projekt stehe zwar noch am Anfang, doch von ein paar wenigen Unterwerken gebe es bereits brauchbare dreidimensionale Modelle. «Wir haben also diese drei Zutaten kombiniert und uns überlegt, wie wir Augmented Reality nutzen können, um die Inspektionen effizienter zu gestalten und die Datenqualität zu verbessern.»
Entstanden ist daraus ein Prototyp auf Basis von Microsofts AR-Headset Hololens. «Die Lösung ermöglicht es dem Dienstleister, der die Inspektion durchführt, durch die Hololens ein übergelagertes 3D-Modell des zu inspizierenden Gerätes zu sehen. Er wird dann durch die Software von einem Checkpunkt zum nächsten geführt und ihm wird jeweils angezeigt, was er genau anschauen muss, wobei wir auch Fotos von Geräten oder Bauteilen sowie weitere Informationen anzeigen können, die ihn bei der Beurteilung unterstützen.»
Die Lösung hat die Abteilung Research & Digitalisation von
Swissgrid jedoch nicht im Alleingang entwickelt, sondern hat dafür einen externen Dienstleister an Bord geholt, wie Auger ausführt: «Unser Partner für dieses Projekt war das Start-up Rimon Technologies, ein Spin-off der ETH Zürich. Die Firma ist noch relativ jung und besteht aus sechs Mitarbeitenden.» Der Prototyp funktioniert laut Auger schon sehr gut, das System ist aber noch nicht im operativen Einsatz, sondern wird nach wie vor getestet. «Mit der aktuellen Version der Lösung können mithilfe einer Hololens 300 Checkpunkte innerhalb eines Gebäudes und im Freien inspiziert werden. Die Herausforderung für uns besteht derzeit in der Verknüpfung der von der Hololens generierten Daten mit unserem SAP-System. Dabei geht es um die Einträge, die während der Inspektion in der virtuellen Checkliste gemacht werden, die in unserer Instandhaltungsdatenbank erfasst werden müssen.» Dies wäre gemäss Auger ein grösseres Projekt, für das weitere Ressourcen aufgewendet werden müssen.
Der Entwicklungsprozess
Die Entwicklung des Prototyps begann im Frühjahr 2021 als Nebenprojekt. Dass heute bereits eine funktionierende Lösung besteht, hat laut Auger auch damit zu tun, dass der Prototyp auf einem bestehenden Framework aufbaut, das Rimon intern entwickelt hat. «Für uns hat Rimon aber unter anderem das User Interface konzipiert, eines der zentralen Elemente einer solchen Lösung. So müssen die Textfelder die richtige Grösse haben und auch die Knöpfe müssen alle gut sichtbar sein, das ist alles andere als trivial. Es macht deshalb Sinn, mit einem Partner zusammenzuarbeiten, der auf diesem Gebiet gutes Know-how und Erfahrung hat.» Wichtig sei für
Swissgrid auch, dass der Endnutzer bei der eingesetzten Lösung die Inhalte der Checklisten selbst editieren kann. «Vielleicht einmal im Jahr werden gewisse Assets ausgewechselt, und dass wir diese dann zusammen mit den neuen Checkpunkten selbständig und ohne IT-Expertise von aussen in der Lösung anpassen können, ist für uns sehr attraktiv», fügt Auger an.
Auch hat sich im Laufe des Projektes gezeigt, dass die AR-Technologie grosses Potenzial aufweist, wenn es darum geht, Geschäftsprozesse zu digitalisieren. «Wir haben die Lösung mit unseren eigenen Mitarbeitenden und mit denen unserer Dienstleister getestet, und die meisten waren begeistert. Spannend war auch, dass sie immer wieder mit weiteren Ideen auf uns zugekommen sind. Dabei gingen diese oft über den Umfang des aktuellen Projektes hinaus und betrafen beispielsweise Schulungen oder die Bauplanung», so Auger.
Die nächste Stufe
Für das laufende Jahr ist bereits geplant, zwei neue Features zu entwickeln, wie Etienne Auger ausführt: «Zum einen wollen wir einen Videolink mit dem Kontrollzentrum implementieren. Auf diese Weise könnte die Person, welche die Inspektion durchführt, im Zweifelsfall auf die Hilfe eines Experten zurückgreifen, der über die Kamera der Hololens sehen würde, was der Mitarbeitende vor Ort sieht.» Ausserdem soll die Lösung auf mobile Betriebssysteme portiert werden, um sie auch mit einem Smartphone oder Tablet nutzen zu können. Der Grund dafür ist laut Auger finanzieller Natur, denn AR-Headsets wie die Hololens sind nach wie vor kostspielig und müssen ausserdem verwaltet werden.
Mobile Geräte haben aber auch einen Nachteil: «AR-Headsets sind derzeit noch relativ klobig, aber man hat bei deren Nutzung beide Hände frei. Dies ist mit einem mobilen Gerät wie einem Smartphone oder Tablet nicht der Fall, was vor allem bezüglich der Sicherheit relevant ist. Eine Variante für mobile Geräte könnte deshalb vor allem zur punktuellen Unterstützung bei der Inspektion eingesetzt werden.» Kein Problem sieht Auger in Bezug auf die Leistungsfähigkeit von Smartphones und Tablets. Er geht davon aus, dass aktuelle Modelle über genügend Rechenleistung verfügen, um die AR-Lösung auszuführen.
AR ist gekommen, um zu bleiben
Bereits jetzt ist klar, dass das Projekt aufgrund der guten Erfahrungen fortgeführt wird. Bei
Swissgrid ist man von der Technologie überzeugt und will das weitere Potenzial ausloten und nutzen. «Die jetzige Lösung hat uns aufgezeigt, welches Potenzial in Augmented Reality für unsere Zwecke steckt. Wir sind auch überzeugt, dass sich die Technologie sehr gut für Schulungen eignen könnte. Und schliesslich wollen wir auch im Bereich Building Information Management künftig auf AR und vielleicht auch auf Virtual Reality setzen», betont Auger. Wie er weiter erklärt, habe man mittlerweile so viele Vorschläge und Ideen gesammelt, dass man im kommenden Jahr eine Vollzeitstelle schaffen könnte, die sich ausschliesslich mit der Entwicklung von Proof-of-Concept-Projekten mit AR beschäftigen würde.
«Ich schätze, dass wir in drei Jahren eine erste operativ einsetzbare AR-Lösung haben könnten. Noch muss der Prototyp aber weiter getestet und ausgefeilt werden, vor allem im Bereich der Daten. So sind beispielweise unsere 3D-Modelle schon heute ziemlich gut, sie wurden aber nicht im Hinblick auf die Verwendung in einer AR-Umgebung erstellt und sind deshalb stellenweise nicht detailliert genug», sagt Auger abschliessend.
(luc)