Augmented Reality ist in der Schweiz angekommen» verkündete das Institut für Marketing und Analytics der Universität Luzern vor einem halben Jahr bei der Vorstellung ihres «Swiss Augmented Reality Barometer». Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass sich bereits etwa die Hälfte grösserer Unternehmen ernsthaft mit Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR) – zusammengefasst unter dem Akronym XR – auseinandersetzt. Und die einschlägigen Blogs rufen 2021 zum Jahr aus, das VR erste Mainstream-Träume beschert habe.
Stürmisches Wachstum nach langer Latenz
Nun also soll der endgültige Durchbruch vor der Türe stehen. Das zumindest legen die Marktforschungen und -prognosen zahlreicher Institute nahe. Auf gegen 300 Milliarden Dollar veranschlagen Boston Consulting Group und Mordor Intelligence den weltweiten Markt für AR und VR bis 2024. Dies entspricht nahezu einer Verzehnfachung gegenüber den gut 30 Milliarden im Jahr 2021. Etwas zurückhaltender gibt sich Deloitte mit einem weltweiten Umsatz von 74 Milliarden Dollar bis 2024, sechs Mal mehr als 2021. AR hat dabei einen deutlich grösseren Anteil als VR. Darin ist man sich einig. Ebenso, dass der Gaming-Bereich heute den grössten Anteil am AR/VR-Kuchen hat.
Sind AR und VR also primär Technologien für Gaming? Die zahlreichen VR Centers nicht nur in Ballungsräumen wie Basel, Bern und Zürich, sondern auch in Kreuzlingen, St. Gallen und Lugano scheinen das zu bestätigen. «Gaming oder etwas weiter gefasst: Entertainment ist in der Tat ein grosser Anwendungsbereich», bestätigt Matthias Knuser, CEO des Schweizer VR- und AR-Pioniers Raumgleiter. «Doch geschäftliche Anwendungen konnten in den letzten Jahren deutlich zulegen.» Er nennt mehrere Gründe, die diesen Trend befeuern: Entwicklungen beim Equipment für XR-Anwendungen und bei den Kosten, das verfügbare Know-how und die wachsende Zahl überzeugender Anwendungsbeispiele.
KMU-kompatible Preise
Die Hardware-Preise für High-end-Komponenten sind in den letzten Jahren massiv gesunken. Die Auswahl an Geräten, die bereits «Out of the Box» genügend Leistung für den ruckelfreien Betrieb von Virtual Reality bieten, ist deutlich grösser geworden – nicht zuletzt begünstigt durch die Fortschritte im GPU Computing, wo immer kleinere Grafikkarten komplexe Berechnungen durchführen können. Die visuellen Ausgabegeräte, so genannte Head Mounted Displays (HMD) oder auch VR-Brillen genannt, haben einen Punkt erreicht, wo die aktuelle Rechenpower knapp darzustellen vermag, was von der Software her möglich wäre. Nicht verwunderlich hat sich der «Run for Resolution» bei ungefähr 4K pro Auge stabilisiert. Dazu kommt, dass bei den haptischen Technologien grosse Fortschritte verzeichnet werden. 2022 wurde denn auch bereits zum Jahr der Haptics ausgerufen. Immersion ist eben nicht nur eine visuelle Sache, sondern der kohärenten Stimulation verschiedener Sinne im Takt eines Erlebnisses.
In erschwinglichen Dimensionen bewegt sich auch die Entwicklung von XR-Anwendungen. Laut Matthias Knuser ist man bereits ab 10̓000 Franken dabei. Realistischerweise müsse man aber mit 20̓000 bis 30̓000 Franken rechnen. Das sind Preise, die sich auch ein KMU leisten kann. Neben diesen Fakten sind das über die Jahre angehäufte Know-how in der praktischen Umsetzung von XR-Projekten und die mittlerweile zahlreichen Anwendungsbeispiele aus unterschiedlichsten Branchen weitere Treiber des (prognostizierten) XR-Aufschwungs.
Neue Dimension für Marketing
Ganz weit oben steht der Einsatz von XR im Marketing. Dort geht es in erster Linie darum, Produkte mittels XR auf neue Art erlebbar zu machen und neuartige Markenerlebnisse zu schaffen. Ikea zum Beispiel hat eine App entwickelt, mit der sich Einrichtungsgegenstände automatisch in der richtigen Grösse und Anmutung virtuell im eigenen Zuhause platzieren lassen. Wer der Einrichtung einen Refresh verpassen möchte, kann verschiedene Produkte, Stile und Farben detailgetreu und massstabgerecht in einem echten Umfeld ausprobieren.
Gerade in Online-Shops sehen Fachleute ein grosses Potenzial, um die Retourenflut zu minimieren. Wer ein Kleidungsstück schon mal virtuell anprobieren kann, erlebt weniger Enttäuschungen. Dies bedingt allerdings die Aufbereitung der 3D-CAD-Daten (ob Kleider, Möbelstücke oder Computing-Geräte) in virtuelle 3D-Modelle, die entweder 2D interaktiv oder 3D virtuell animiert werden können. Oft stehen Firmen hier noch am Anfang und schaffen nicht den Sprung über hochwertige Produktfotos hinaus, deren Anwendungszweck einen deutlichen Einfluss auf die Marketingmittel hat. Wer nur aktuellen 2D-Content an eine Wand in der dritten Dimension klebt, nutzt die Möglichkeiten des Mediums nicht.
Günstiger und flexibler: digitale Musterwohnung
Schon recht verbreitet ist der Einsatz von AR und VR in der Bauwirtschaft, insbesondere in der Immobilienvermarktung. Hier liegt auch ein Schwerpunkt von Raumgleiter. Durch die Kombination von verschiedenen Ansätzen hat die Agentur ein vollständiges 3D-Erlebnis für den Verkauf von 44 Eigentumswohnungen im Liestaler Quartier Aurisa geschaffen. Echte Virtual Reality, Visualisierungen und ein Wohnungskonfigurator geben dem Kunden einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Wohnungen, die im Quartier Aurisa angeboten werden.
Anderes Beispiel: Im Auftrag eines Privatkunden hat Raumgleiter für ein Spinnerei-Loft im High-end-Segment einen virtuellen Showroom entwickelt, der mit vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten aufwartet. Schränke lassen sich öffnen, Accessoires verschieben, die Badarmaturen funktionieren, Beleuchtung und Materialisierung können angepasst werden. Ergebnis: vielfältige Inszenierung einer Produkterfahrung, die dem Endkunden ein bleibendes Erlebnis bieten. Und genau darum geht es Agenturchef Knuser: «Wir lassen virtuelle Räume real werden. So schaffen wir einen Sense of Place, der Zukunft fassbar macht, und unterstützen Kunden im Entscheidungsprozess. Denn wer schon heute sieht, was er morgen bekommt, der ist besser informiert, stärker involviert und schneller begeistert.» Die Ablösung der Musterwohnung hat nicht nur den Vorteil des höheren Involvements, sondern punktet auch in wirtschaftliche Hinsicht: Die digitale Musterwohnung ist günstiger und flexibler.
Immersives Erlebnis steht im Zentrum
Bei XR im Marketing steht das immersive Erlebnis im Vordergrund. Vereinzelt kommt dieser Ansatz auch in der Tourismusbranche zum Einsatz, allerdings eher im hochpreisigen Segment. Koncept VR etwa hat sich mit dem Lifestyle-Reisemagazin Condé Nast Traveler zusammengetan, um die Cayman Islands in ihrer ganzen Faszination virtuell erlebbar zu machen. Die Erlebniskonstrukteure haben dafür unter anderem eine 360-Grad-Ansicht aus der Vogelperspektive erstellt, mit einem Hubschrauber den Seven Mile Beach abgeflogen, mit einem Tauchteam unter Wasser das Schiffswrack Kitty Wake erkundet, sind mit den Stachelrochen geschwommen, mit Ponys am berühmten Barker’s Beach geritten… Für alle, die es nicht an die weissen Sandstrände der Cayman Islands schaffen, sei das 360-Grad-VR-Erlebnis die nächstbeste Lösung, meinte ein Kommentator dazu. Das Beispiel zeigt aber auch, weshalb VR in der Reisebranche noch von geringer Bedeutung ist: Diesen Aufwand können sich wohl nur Luxusdestinationen im obersten Segment leisten.
Ein ganz anderes Erlebnis der immersiven Art hat Bandara, ein weiterer Akteur in der Schweizer XR-Szene, für die Ostschweizer Fachhochschule entwickelt. In einem dezidierten VR-Raum einer Mietwohnung können sich Auszubildende in Pflegeberufen eine VR-Brille aufsetzen und durch eine digitale Kopie der Wohnung bewegen. Während sie verschiedene Aufgaben zu erledigen haben, werden sie mit möglichen Symptomen einer Demenzerkrankung konfrontiert. Das Ziel des Projekts ist, Pflegefachpersonen in Ausbildung für solche Symptome zu sensibilisieren, um die Zusammenarbeit mit Patientinnen und Patienten zu verbessern.
Weniger Fehler dank Ausbildung in VR
Schulung und Ausbildung sind denn auch Anwendungsfelder, in denen XR bereits besser Fuss gefasst hat als in der Reisebranche. Dafür sind mehrere Faktoren verantwortlich. Zum einen können durch die Integration von VR-Technologie die Kosten wie auch der reisebedingte Zeitaufwand erheblich gesenkt werden. Die relativ geringen Kosten solcher Lösungen ebnen ihrem Durchbruch in der Schulungspraxis zusätzlich den Weg. Zum anderen lassen sich mit den Visualisierungsmöglichkeiten von VR höhere Lerneffekte erzielen als mit herkömmlichen Lernmethoden.
Der Einsatz von immersiver VR in der Bildung ist mit erheblichen Vorteilen verbunden. Zu diesem Schluss kommt eine Übersicht von gut zwei Dutzend wissenschaftlichen Arbeiten. «Bei den meisten prozessbezogenen Aufgaben brachte der Einsatz von VR einen Mehrwert», heisst es darin. Zudem gebe es klare Hinweise darauf, dass der Erwerb virtueller Fähigkeiten erfolgreich auf reale Probleme und Szenarien übertragen werden konnte. Eine Studie der Universität Maryland wird konkreter: Sie weist nach, dass eine in VR geschulte Gruppe 41 Prozent weniger Fehler macht als eine Kontrollgruppe am Desktop.
Grossunternehmen wie Walmart oder Honeywell setzen deshalb in der Schulung bereits auf breiter Basis auf Immersion. Honeywell etwa konnte die Wartungskosten der Offshore-Plattformen um 50 Prozent senken, seit die Mitarbeitenden mit VR- und AR-Inhalten ausgebildet werden. Auch in der Schweiz wächst das Interesse an VR im Schulungsbereich. Der Stromkonzern BKW nutzt eine von Bandara entwickelte VR-Applikation, um die Elektrikerlehrlinge den Umgang mit Hochspannung realitätsnah üben zu lassen, ohne dass sie sich dabei einer Gefahr aussetzen. In der ersten Version befinden sich die Benutzer in der Simulation vor einer Schaltanlage, bei der es ein Problem zu erkennen und zu beheben gilt, nachdem man sich mit der korrekten Schutzausrüstung ausgestattet hat. Auch Soft Skills lassen sich immersiv aneignen, wie ein weiteres Bandara-Projekt für die Swiss Connect Academy zeigt, bei dem Führungskräfte für Konfliktsituationen geschult werden.
Corona als Booster für virtuelle Welten
Um die Entwicklung von VR von einem «Nice to have»- zu einem unverzichtbaren Business-Tool mit greifbarem ROI voranzutreiben, haben zahlreiche Unternehmen und Institutionen eine lange Liste von Szenarien publiziert. Sie orten Potenziale für AR und VR an Messen und Events, in der Produktentwicklung, in der Medizin, in der Planung, am Point-of-Sale, in der Logistik, um nur die prominentesten zu nennen. In vielen Bereichen gibt es bis heute allerdings erst wenige, in der Schweiz teilweise noch gar keine Anwendungsbeispiele. Wo sich XR aber zunehmend in der Praxis etabliert, ist im Bereich von Service und Wartung. Durch Reisebeschränkungen und den Zwang zum Fernsupport könnte hier Corona zum Booster für XR werden, wie eine Deloitte-Studie nahelegt.
Virtueller Ingenieur für schnellen Service
Erst kürzlich hat
HP den ersten Mixed-Reality-Service für die Druckindustrie vorgestellt. HP xRServices und Microsoft Hololens 2 kombinieren dabei die virtuelle und reale Welt und ermöglichen Anwendern von grossen digitalen Druckmaschinen so, innerhalb kürzester Zeit mit HP-Technikern in Kontakt zu treten, um Probleme während der Druckproduktion zu lösen. Ein virtueller Ingenieur leitet Benutzer, egal ob Digital Natives oder Anfänger, Schritt für Schritt an und führt sie durch die Problemlösung. Auf diese Weise wird keine Zeit für Serviceanrufe verschwendet, persönliche Treffen oder Reisen entfallen weitgehend, das schnelle Onboarding führt rasch zu Lösungen, und die Ausfallzeiten der Druckmaschine können deutlich reduziert werden.
In eine ähnliche Richtung zielt ein experimentelles Projekt von Bitforge. Im Auftrag von Bombardier entwickelte die Zürcher AR- und App-Schmiede die AR-Anwendung Holotram, welche die mögliche Zukunft eines Service-Engineers der Verkehrsbetriebe Zürich aufzeigt. Dieser zieht sich eine AR-Brille an und hat während den Arbeiten am Tram direkten Zugriff auf sämtliche benötigten Informationen. Der User kann Wartungspläne und Checklisten abrufen, Störungsmeldungen einsehen und Ersatzteile, die hinter der Verkleidung verborgen sind, sichtbar machen. So lassen sich Zeit und Geld sparen.
Einfach eintauchen statt zögern
Technologie, Know-how und Erfahrung sind da. Das Preisniveau bewegt sich in einem überschaubaren Rahmen. Die Bedingungen sind gut, dass das XR-Anwendungsfeld einen ordentlichen Schub bekommen könnte. Dennoch wagt hierzulande kaum jemand eine harte Prognose. Möglicherweise gilt für den ganzen XR-Markt, was Reto Hofstetter, Leiter der Studie «Swiss Augmented Reality Barometer», zum Stand der Dinge bei AR-Anwendungen gemeint hat: Sie stecken noch in den Kinderschuhen. Eine Abschätzung des Potenzials für den Schweizer Markt sei daher nur schwer möglich. Matthias Knuser von Raumgleiter empfiehlt Unternehmen, auch kleineren, hingegen ganz pragmatisch: «Setzen Sie sich eine VR-Brille auf und tauchen Sie in eine virtuelle Welt ein. Das beflügelt und überzeugt viel direkter und besser als verbale Beischreibungen jeglicher Art.»
Der Autor
Roger Graf ist studierter Ökonom und arbeitet seit elf Jahren im Produktmanagement bei
HP mit Fokus auf Professional Computing. Er begeistert sich für neue Technologien und experimentiert pausenlos mit neuen Ansätzen, um Partner und Kunden mit den richtigen Geräten auszustatten. Diesem Bestreben entsprungen sind unter anderem das lokale ISV-Programm, die HP-Workstations-Platform, eine Event-Plattform und ein lokaler VR-Showroom mit Full Body Tracking. In seiner Freizeit ist Roger Graf ein passionierter Kitesurfer und Tennisspieler.
Roger Graf, Produktmanagement bei HP (Quelle: HP)