In Altdorf im Kanton Uri ist die Firma Dätwyler eine feste Grösse. Das 1915 gegründete Industrieunternehmen war bis vor rund einem Jahrzehnt vor allem als Hersteller von Verkabelungslösungen bekannt, doch seither hat es einen grundlegenden Wandel durchlaufen. So auch der kürzlich erfolgte Namenswechsel, von Dätwyler Cabling Solutions zu Dätwyler IT Infra. Früher ein Konzernbereich der Dätwyler Holding, ist Dätwyler IT Infra seit Ende 2012 ein eigenständiges Unternehmen, das sich nach wie vor im Besitz der Schweizer Pema Holding mit Sitz in Altdorf befindet. Heute beschäftigt Dätwyler IT Infra rund 1000 Mitarbeitende weltweit und agiert als Lösungsanbieter für IT-Infrastrukturen von Rechenzentren, Glasfasernetzen, intelligenten Gebäuden inklusive Software und Services sowie für das Elevator-/Escalator-Geschäft. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in der Schweiz und Tochtergesellschaften in Europa, im Mittleren Osten, in Südostasien und China.
Wie Adrian Bolliger, Managing Director Europe von
Dätwyler IT Infra, erläutert, stellt das Unternehmen zwar auch heute noch Kabel her, allerdings habe man schon vor über zehn Jahren erkannt, dass im Zuge der Digitalisierung immer mehr Daten vor Ort verarbeitet werden, und sich überlegt, wie der nächste logische Entwicklungsschritt aussehen könnte: «Wenn man Kabel herstellt, ist der nächste Schritt ein Stecker, und dann ein Datacenter, an welches das Kabel angeschlossen wird. Daraus ist unser heutiges Portfolio an Edge-Computing-Lösungen entstanden, die wir unseren Kunden auf der ganzen Welt anbieten.»
Dätwyler IT Infra ist nicht nur Anbieter von Lösungen rund um Edge Computing und Hybrid Clouds, das Unternehmen befindet sich selbst in einer Transformationsphase und mitten in einem Projekt, um ein Edge-Datacenter für die eigene Produktion aufzubauen.
Mit Blick auf die Zukunft
Gemäss Adrian Bolliger sprechen verschiedene Faktoren für eine Edge-Computing-Lösung: «Zwar verfügt die Schweiz über ein hoch performantes Glasfasernetz mit sehr tiefen Latenzzeiten, wir sehen aber immer mehr, dass diese für bestimmte Szenarien nicht ausreichen. Wenn wir bei uns in den Produktionshallen Maschinen vernetzen und neue Technologien wie künstliche Intelligenz mit Machine Learning ins Spiel bringen, die anhand von Daten die Maschinen steuern sollen, dann muss die Verzögerung bei der Datenübertragung extrem kurz und die Verfügbarkeit extrem hoch sein. Deshalb müssen solche Applikationen vor Ort laufen.»
Hinzu komme, so Bolliger, dass die generierte Datenmenge durch die Vernetzung der Maschinen in der Produktion massiv zunehme. «Und nicht zuletzt handelt es sich bei vielen unserer Daten um solche, die wir nicht zwingend aus der Hand geben möchten. Der Sicherheitsaspekt spielt hierbei also auch eine Rolle», erklärt Bolliger. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Unabhängigkeit, die mit dem Betrieb eines Edge-Computing-Systems einhergeht. Bei einem Ausfall der Internetverbindung kann die Produktion dennoch weiterlaufen, wenn die Daten im eigenen Rechenzentrum On-Premise sind. Man ist dann nicht auf den Zugriff auf eine Cloud angewiesen.
Die Entscheidung zum Aufbau einer Edge-Infrastruktur basiert jedoch nicht allein auf technologischen Aspekten; ihr liegen vor allem strategische Überlegungen zugrunde. «Der Auslöser war bei uns, dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit langfristig steigern wollen», betont Adrian Bolliger. «Wir wollen auch in fünf oder zehn Jahren noch in Altdorf produzieren, und unser Weg in die Zukunft führt über die Automatisierung und Digitalisierung. Es geht letztlich darum, schneller und besser zu sein als unsere Mitbewerber, mit nach wie vor hoher Qualität.»
Weichenstellung für die Zukunft
Um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, braucht man möglichst viele Daten, die unter anderem als Entscheidungsgrundlage zur Optimierung der Prozesse dienen. «Zunächst müssen wir unsere Maschinen vernetzen, um Daten zu erhalten, diese verarbeiten zu können und um gewisse Muster zu erkennen. Zur Unterstützung bei den Entscheidungen bedienen wir uns auch der künstlichen Intelligenz. Ausserdem kommt ein übergeordnetes Manufacturing-Execution-System, kurz MES, zum Einsatz, das den Zusammenhang der Daten zwischen den einzelnen Prozessschritten herstellt. Daraus kann die gesamte Steuerung der Prozesse übernommen werden», erklärt Bolliger. «Es stellte sich nun also die Frage, wo dieses MES laufen sollte: in der Cloud, wo nach wie vor unser grösster IT-Workload läuft, oder vor Ort in einem eigenen Rechenzentrum. Mit unserer internen IT haben wir diese Frage zunächst aus der Perspektive der Kosten erörtert und festgestellt, dass es für uns günstiger ist, wenn das MES vor Ort läuft. Funktionen wie Realtime-Monitoring, Berechnungen mit den Maschinendaten und später die Steuerung der Maschinen setzen eine On-Premise-Lösung voraus.»
Deshalb und aus den zuvor genannten Gründen hat man sich bei
Dätwyler IT Infra dazu entschieden, einen Grossteil der Daten aus der Produktion vor Ort in Altdorf zu verarbeiten. Dank der neuen Infrastruktur sollen die Latenzzeiten nur noch wenige Millisekunden betragen. Laut Bolliger ist eine Garantie solch tiefer Latenzzeiten mit einer Cloud-Anbindung nur schwer zu erreichen.
Das eigene Mini-Datacenter
Im Gegensatz zu einer Cloud-Lösung fallen beim Aufbau einer Edge-Infrastruktur Investitionskosten an. «In unserem Fall beträgt die Investition in unser Edge-Rechenzentrum rund 400’000 Franken, wobei darin auch die Kosten für den Bau eines Server-Raums samt Verglasung und Sicherheitszonen sowie die Infrastruktur, die Aktivkomponenten, die Migration und die Implementierung enthalten sind», so Bolliger. «Stellt man die Abschreibung dieser Kosten den wiederkehrenden Kosten für eine Cloud-Lösung gegenüber, fahren wir mit unserer Edge-Lösung aber gesamthaft etwas günstiger. Bei steigender Datenmenge kippt der Vorteil noch mehr in Richtung Edge Computing.»
Wie Adrian Bolliger weiter ausführt, ist es wichtig, bei der Planung einer eigenen Edge-Infrastruktur langfristig zu denken: «Unser System ist modular aufgebaut, sodass wir zusätzliche Racks für weitere Server oder Speichereinheiten hinzufügen können. Und man muss den Server-Raum so gestalten, dass er auch künftig den wachsenden Anforderungen an das Edge-Rechenzentrum genügt. So ein modulares Baukastensystem – vom Rechenzentrum bis zur Verkabelung – sowie der Ausbau eines Raumes mit der schlüsselfertigen Ablieferung gehören zum Portfolio, das wir unseren Kunden anbieten.» Darüber hinaus bedeutet der Betrieb einer eigenen Edge-Infrastruktur mehr Aufwand. «Verfügt ein Unternehmen nicht über die nötigen IT-Ressourcen, um das eigene Mini-Datacenter zu betreiben, benötigt es einen spezialisierten Dienstleister, der sich mit Distributed-Cloud-Lösungen auskennt. Dieser kann dann sowohl den Workload in der Cloud als auch den vor Ort managen», sagt Bolliger.
Die Vorbereitungen für das Projekt haben bei Dätwyler rund ein Dreivierteljahr gedauert. In dieser Phase wurden die Anforderungen an das neue System evaluiert. «Wir haben Anfang März dieses Jahres mit der Umsetzung begonnen. Der Plan sieht vor, dass unser neues Mini-Datacenter Ende Juli in Betrieb geht», so Bolliger. «Das modulare Rechenzentrum ist in einem Tag aufgebaut, der grösste Flaschenhals in unserem Zeitplan ist der Bau des Server-Raumes, der in einer Produktionshalle zu liegen kommt.»
Die richtige Datenanbindung
Edge Computing wird bei Dätwyler aber nicht nur zur Steuerung der Maschinen eingesetzt, wie Adrian Bolliger erklärt: «Heute sind unsere Mitarbeitenden im Unterhalt neu mit Tablets ausgerüstet. Wartungsprotokolle werden direkt digital erfasst. Diese Daten werden wir künftig auch für Predictive Maintenance einsetzen, um frühzeitig zu erkennen, ob bei einer Maschine ein Defekt auftreten könnte.» Auch die Wartung der Maschinen mittels Augmented Reality oder die Steuerung über Machine Learning ist denkbar. Des Weiteren steht auch das Thema «gläserne Produktion» auf der Agenda. Dank der blitzschnellen Datenverarbeitung vor Ort könnten die Kunden laut Bolliger dereinst quasi in Echtzeit mitverfolgen, wo sich ihre Bestellung genau in der Produktion befindet.
Solche Anwendungsfälle setzen schnelle Datenverbindungen zwischen den Maschinen sowie den IoT-Geräten und dem Server voraus. Deswegen hat das Team um Adrian Bolliger mit verschiedenen Verbindungstypen experimentiert: «Wir werden voraussichtlich einen Mix realisieren. Stationäre Maschinen, bei denen eine entsprechende Infrastruktur vorhanden ist, werden wir mit Kabeln aus Kupfer oder Glasfasern direkt mit dem Server vernetzen. Maschinen hingegen, die mobil sind und die wir unter Umständen umplatzieren müssen, werden wir mit Mobilfunk erschliessen, mit 4G oder 5G. Der Vorteil von Mobilfunk gegenüber WiFi liegt für uns darin, dass Mobilfunk weniger stark durch Magnetstrahlung beeinträchtigt wird. Dies ist gerade in der Produktion wichtig, wo es beispielweise Metallgerüste und viele Stromquellen gibt. Somit schneidet Mobilfunk für uns von der Performance her besser ab.»
Edge Computing braucht ein neues Mindset
Die Investition in Edge Computing ist in den Augen von Adrian Bolliger eine langfristige: «Wichtig ist, sich nicht nur zu überlegen, was im nächsten Jahr sein könnte, sondern weiter zu denken. Denn eine Edge-Cloud-Lösung setzt man nicht um, weil es die IT so will. Letztlich wollen wir am Markt erfolgreich sein, wettbewerbsfähig bleiben und Arbeitsplätze sichern oder schaffen, und Edge Computing ist hierfür Mittel zum Zweck.»
Man dürfe ausserdem keinesfalls vernachlässigen, dass Edge Computing auch eine Veränderung des Mindsets der Mitarbeitenden voraussetze, mahnt Bolliger: «In Zukunft wird es hybride Teams bestehend aus Menschen und Maschinen geben. Wir haben bereits begonnen, Technologien wie künstliche Intelligenz, zum Beispiel Robotik beziehungsweise Robotic Process Automation, später auch Machine Learning einzusetzen, welche Aufgaben der Mitarbeitenden oder Teile davon übernehmen. Man muss die Menschen deshalb mit auf die Reise nehmen und ihnen erklären, dass sich ihr Job verändern wird. Man muss ihnen eine Perspektive geben.» Mit der Installation eines Mini-Datacenters ist ein Edge-Computing-Projekt für Adrian Bolliger deshalb noch lange nicht abgeschlossen: «Die Mitarbeiter lernen den Umgang mit den neuen Technologien und verstehen deren Nutzen. Dieses Wissen tragen wir zu unseren Kunden und unterstützen so auch sie in deren IT-Projekten. Wir lernen, welche Puzzleteile in unserem Marktangebot noch fehlen und somit in naher Zukunft noch ergänzt werden.»
(luc)