Effizient zu neuen Fähigkeiten

Durch den technologischen und wirtschaftlichen Wandel wird auch im Finanz­wesen ein grosser Teil der bestehenden Rollen überflüssig. Andererseits entstehen immer neue Aufgaben, für die die Mitarbeiter aber aus- und weitergebildet werden müssen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2020/11

     

Aufgrund der Covid-19-Pandemie muss sich die Finanzbranche oft innerhalb weniger Wochen an neue Regeln anpassen. Dies kommt zu den bisherigen Herausforderungen durch bewährte, aber inzwischen veraltete Technologien sowie Qualifikationslücken bei ihren Mitarbeitenden hinzu. Gerade diese beiden Probleme bilden einen Teufelskreis: Einerseits scheitert die Einführung neuer Technologien oft am mangelnden Wissen – und andererseits schrecken veraltete Technologien neue Talente ab.


Laut einer Studie des Weltwirtschaftsforums 2020 sind 74 Prozent der Unternehmen nicht in der Lage, die richtigen Fachkräfte auf dem lokalen Arbeitsmarkt zu finden. 43 Prozent berichten von Qualifikationslücken in ihren derzeitigen Führungsteams. Während einige grosse Banken und Finanzkonzerne den Bedarf an Umschulungen bereits erkannt und entsprechende Weiterbildungsmassnahmen durchgeführt haben, befindet sich die Mehrheit der Institute noch in der Findungs- und Akzeptanzphase.
Dabei nimmt der Druck für Veränderungen ständig zu. Denn die Kundengewohnheiten verändern sich immer schneller, der Kostendruck steigt und neue Compliance-Ansprüche führen permanent zu weiteren Anforderungen. So benötigen Unternehmen mit Hilfe schneller digitaler Transformationsinitiativen eine höhere Beweglichkeit und Effizienz zu geringeren Kosten. Doch wie lässt sich das mit angespannten Budgets erreichen?

Aktuelle Qualifikationslücken

Eine der grössten Herausforderungen bei der Transformation sind Qualifikationslücken in der derzeitigen Belegschaft. Diese lassen sich aufgrund des Fachkräftemangels nicht einfach durch Neueinstellungen schliessen. Darüber hinaus sind Transformationsinitiativen kostenintensiv, ebenso wie die Einstellung neuer Talente. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass neue agile Arbeitsweisen zwar kostengünstiger sind, aber die Suche nach den richtigen Fähigkeiten dafür eine grosse Hürde darstellt.

Die Wahrnehmung dieser Auswirkungen ist unterschiedlich: Während die Hälfte der Unternehmen einen Personalabbau aufgrund der Automatisierung erwartet, glaubt mehr als ein Viertel das Gegenteil. Für Finanzdienstleister manifestieren sich Qualifikationslücken entlang dreier Komponenten:


1. ROI für ­Technologie: Einer McKinsey­-Studie zufolge sind die Mitarbeiter ein wesentlicher Faktor für die Wirksamkeit der digitalen Transformation. Denn Qualifikationslücken können den Wert von Investitionen in neue Technologien beeinträchtigen. So bietet zum Beispiel die beste technologische Plattform nur mit einem ausgezeichneten Kundenbetreuungs-Team einen echten Mehrwert für das Unternehmen. Entsprechend sind die Fähigkeiten der Mitarbeiter beim Return on Investment (ROI) für die Technologie zu berücksichtigen.

2. Mitarbeiter als Interessenvertreter: Da die Pandemie eine grössere Kundenorientierung und Sensibilität erfordert, ist die Weiterbildung der Belegschaft für einen einfühlsamen Ansatz bei der Lösung von Geschäftsproblemen von entscheidender Bedeutung. Das Geschäft konzentriert sich immer mehr auf den Menschen, und die Mitarbeiter entwickeln sich zu relevanten Interessenvertretern in diesem Prozess.

3. Agilität: Zwar ist in bestimmten Fällen der Bedarf an menschlichem Einfühlungsvermögen gering. Doch bei vielen Geschäftsprozessen erfordert die Implementierung und Aufrechterhaltung mit einer kleinen Belegschaft, dass die Mitarbeiter mit hohem Fachwissen auf agile Teams verteilt sind. Dann können sie schnell und kompetent auf neue Anforderungen reagieren.

Neue Fähigkeiten für die Arbeitskräfte von morgen

Die notwendige digitale Transformation lässt sich daher nur erreichen, wenn diese im Einklang mit unternehmensweiten Initiativen zur Höherqualifizierung und Umschulung erfolgt. Laut einer Studie der Universität St. Gallen sind dabei die folgenden sechs Faktoren für das Qualifikationsprofil zukunftsfähiger Arbeitskräfte im Finanzdienstleistungsbereich wichtig:

- Kundenerfahrung: Durch sich verändernde Kundenbedürfnisse stehen ­Finanzdienstleister zunehmend unter Druck, ihre Angebote neu zu gestalten. Omnichannel-Präsenz rund um die Uhr ist inzwischen zur Norm geworden. Im digitalen Zeitalter sind die Kosten selbst für einen Kontowechsel gering. Kundenzentriertheit wird daher zum wichtigsten Punkt für die Geschäftsanbahnung. Infolgedessen sind Designer für Benutzeroberflächen in der heutigen digitalen Wirtschaft sehr gefragt und von grossem Wert.


- Digital, digital, digital: Heute werden physische zunehmend durch digitale Interaktionen ersetzt. Daher sind virtuelle Zusammenarbeit, der richtige Umgang mit Software sowie die Fähigkeit unabdingbar, Kunden durch digitale Interaktionen mit einem einfühlsamen ­Ansatz zu begeistern. Entsprechend brauchen Finanzunternehmen eine Belegschaft mit breiten Technologiekompetenzen, die sie durch Selbstbewertung und selbstbestimmte Lernmöglichkeiten fördern.

- Inkubation und Innovation: Rasche technologische Fortschritte verbessern viele Prozesse im Finanzwesen. Um innovative Angebote auf den Markt zu bringen, sind Teams mit unterschiedlichen Fähigkeiten erforderlich, die mit schnellen Entwicklungs-, Test- und Lernprozessen arbeiten.

- Eine neue agile Kultur: Führende Firmen haben agile Teams mit Mitarbeitern, die aus anderen Branchen kommen und gemeinsam mit Start-ups an innovativen Produkten arbeiten. Dies erfordert einen Wechsel von einem prozessorientierten Ansatz zu einem projektbasierten Ansatz, bei dem die Beteiligten umfassendere Verantwortlichkeiten erhalten. Dies lässt sich eher mit Mitarbeitenden erreichen, die über ein breiteres statt über ein fachspezifisches Kompetenzspektrum verfügen.

- Einfachere Anwendungslandschaft: Statt grosse und umständlich zu verwaltende Anwendungen sind kleine, flexible Web-basierte und mobile Anwendungen entscheidend, um die Markteinführung zu beschleunigen. Dies erhöht die Nachfrage nach Software-Entwicklern, UX-Spezialisten, Marketing-Experten oder Risiko-Analysten.

- Programme zur Automatisierung und Effizienz: Zunehmender Wettbewerbsdruck, insbesondere während einer flauen Wirtschaft, zwingt die ­Unternehmen zur Automatisierung einfacher, sich wiederholender Routineprozesse. Davon können 40 bis 60 Prozent der bestehenden Arbeitsplätze im Finanzsektor betroffen sein.

Synchronisierte Transformation

Bei vielen Finanzdienstleistern begegnen Mitarbeitende mit klassischen Qualifikationen den neuen Anforderungen und Technologien mit Skepsis. Doch die Einführung neuer Anwendungen kann grössere Initiativen zur Weiterbildung anstossen. So arbeiten führende Finanzinstitute bereits mit Bildungseinrichtungen und Technologiefirmen zusammen, um mit geeigneten Angeboten für Höherqualifizierung, Umschulung und Weiterbildung die Qualifikationslücken effizient zu schliessen.

Dabei sollten Unternehmen ihre Anforderungen mit den Qualifikationsprofilen der Mitarbeiter abgleichen, um die richtigen Lernpfade zu empfehlen und zu fördern. So wird das ursprüngliche Problem zu einer Win-Win-Situation für beide Seiten – Finanzinstitut und Belegschaft – umgewandelt. Zum Beispiel lassen sich Karriere-Seiten im Intranet um Kompetenzportale erweitern, in denen Mitarbeitende die nötigen Fähigkeiten digital erwerben können. Ähnlich wie bei Projekten zur sozialen Verantwortung können sich Finanzinstitute mit Konkurrenten zusammenschliessen und in Lernangebote investieren, um der bestehenden Belegschaft die richtigen Fähigkeiten zu vermitteln.


Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Fähigkeiten der derzeitigen Arbeitskräfte durch Bootcamps zu erweitern und die Zusammenarbeit mit Spitzenuniversitäten auszuweiten, um die dringendsten Lücken zu schliessen. Innerhalb von ­Organisationen ist die Schaffung von Teams, die der gegenseitigen Förderung von ­Fähigkeiten dienen, eine weitere wirksame Massnahme zur Höherqualifizierung der bestehenden Belegschaft. Alteingesessene Unternehmen müssen dabei erkennen, dass neue Technologien nicht nur die Anzahl und die Kompetenzen der in Finanzinstituten arbeitenden Menschen verändern, sondern auch die Art ihrer Laufbahn. Während die Einstellung neuer Fachkräfte bei Nachfrage­spitzen und in dringenden Situationen ­unvermeidlich ist, wird sich der wahre Wert der digitalen Transformation erst dann zeigen, wenn die Belegschaft mit den neuen Arbeitsprozessen und Anwendungen reibungslos umgehen kann.

Neue Fähigkeiten sind gefragt

Durch die digitale Transformation wird ein grosser Teil der bestehenden Jobs überflüssig. Doch gleichzeitig entstehen neue Arbeitsplätze, die aber andere Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern. Statt neue Mitarbeiter einzustellen, sollten Finanzinstitute erst ihre bestehende Belegschaft weiterbilden. Dann ist eine schnelle digitale Transformation möglich, die veraltete Arbeitsweisen durch höhere Agilität, Effizienz und resilientere Abläufe bei geringeren Kosten ersetzt. So profitieren beide Seiten von den Umschulungsmassnahmen.

Die wichtigsten Fakten

- Sich verändernde Kundenbedürfnisse sind der wichtigste Grund für die Transfor­mation.

- Finanzunternehmen erhalten eine breitere Technologie-Kompetenz der Belegschaft, wenn sie die Selbstbewertung und selbstbestimmte Lernmöglichkeiten fördern.

- Viele Finanzdienstleister verfolgen ­stra­tegisch die Entwicklung langfristiger ­Fähigkeiten zur Inkubation und Innovation.

- Die Finanzinstitute ersetzen klassische ­hierarchische Organisations-Strukturen zunehmend durch agile Arbeitsweisen, um hohe Flexibilität zu gewährleisten, die Markteinführung zu beschleunigen und Innovationen von unten nach oben zu ­ermöglichen.

- Eine Vereinfachung der Anwendungslandschaft fördert die organisatorische Flexibilität und beschleunigt die Markteinführung.

- Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass viele einfache und sich wiederholende Aufgaben im Finanzwesen automatisiert werden. Das unterstreicht die ­Bedeutung einer strategischen Personalplanung.

Der Autor


Sudip Lahiri ist Senior Vice President and Head Financial Services Europe bei HCL Technologies. Er leitet die Finanzdienst­leistungen von HCL Technologies in Europa und verfügt über mehr als 24 Jahre Erfahrung in der IT-Branche sowie 20 Jahre im europäischen Markt. In Zusammenarbeit mit Partnern und Analysten baut er das Europageschäft weiter aus. Lahiri hat einen Master-­Abschluss der Johnson & Wales University, einen Bachelor-­Abschluss in Naturwissenschaften der Universität von Kalkutta und einen MBA von der University of New Hampshire.


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