Swiss IT Magazine»: Herr Carriero, Breitling ist eine Marke mit langer Tradition und bekannt für seine mechanischen Uhren, die im letzten Jahrhundert vornehmlich in der Luftfahrt Verwendung fanden und heute im Luxussegment angesiedelt sind. Welche Rolle spielt die Digitalisierung in einem solchen Unternehmen?
Antonio Carriero: Digitalisierung ist eine neue Art, Dinge zu tun. Viele Unternehmen konzentrieren sich auf die Entwicklung einer digitalen Strategie, wenn sie sich stattdessen auf die Integration digitaler Technologien in alle Aspekte des Geschäfts konzentrieren sollten, vom Channel über die Prozesse und Daten bis hin zum Betriebsmodell, den Incentives, der Kultur und natürlich dem Informationssystem. Breitling wird sich auch künftig auf seine langjährige Expertise fokussieren, nämlich die Produktion qualitativ hochwertiger, mechanischer Uhren. Aber die Dynamik der Digitalisierung und digitale Technologien spielen eine fundamentale Rolle in den Aktivitäten des Unternehmens, besonders im Bereich des Marketings im Zusammenhang mit der Kundenbindung sowie in der Vertikalisierung des Vertriebsmodells. Und nicht zuletzt im operativen Bereich, in dem es um den Betrieb und die Weiterentwicklung der Infrastruktur und der Software geht. Wichtig ist in diesem Kontext vor allem die konstante Verbesserung der Analyse und Verarbeitung der Daten, die im Unternehmen gesammelt werden – sei es in der Produktion oder während der Interaktion mit den Endkunden – , um die industriellen Prozesse zu optimieren.
Welche Aufgaben kommen Ihnen als Chief Digital & Technology Officer und Mitglied der Geschäftsleitung zu?Meine Rolle hat drei Dimensionen: Transformation, Innovation und Operational Excellence. Mein Aufgabengebiet umfasst sowohl den klassischen Teil der IT als auch alle Themen rund um die Digitalisierung im Bereich Customer Engagement und im Zusammenhang mit dem Online Store. Darüber hinaus obliegt mir auch die Aufgabe, die Technologie-Roadmap des Unternehmens festzulegen, um den steten Wandel des Betriebsmodells von Breitling voranzutreiben. Dazu gehören auch die Standardisierung der Technologien auf globaler Ebene sowie die Optimierung der Infrastruktur. Im Delivery-Bereich ist es so, dass wir weltweit in Sprint-Zyklen von drei Wochen arbeiten, nach denen wir jeweils neue Releases ausrollen.
Könnten Sie kurz umreissen, wie die IT-Infrastruktur von Breitling heute gestaltet ist?Ende 2018 wurde Breitling vom luxemburgischen Finanzunternehmen CVC Capital Partners übernommen. Damit ging auch eine Neuausrichtung des Betriebsmodells einher. Bis vor drei oder vier Jahren waren die einzelnen Niederlassungen, Märkte und Regionen sehr unabhängig. Damit gab es im Unternehmen viele unterschiedliche Systeme, Lösungen und Plattformen. Nur wenige davon waren auf globaler Ebene ausgerollt, weshalb auch die Konnektivität der Infrastruktur zwischen den einzelnen Niederlassungen zu wünschen übrig liess. Als ich bei Breitling anfing, hatten viele der rund 20 bis 25 Niederlassungen auch eigene ERP-Lösungen, E-Mail-Systeme und teilweise sogar eigene E-Mail-Adressen. Selbst die Nomenklatur der Produkte war nicht überall einheitlich. Unsere Aufgabe bestand in den letzten beiden Jahren somit darin, die ausländischen Niederlassungen stärker in die zentrale IT von Breitling einzubinden. Heute haben wir weltweit ein einheitliches SD-WAN-Netzwerk und nur ein ERP, überall dieselben Office-, E-Mail- und Security-Lösungen. Und auch die Produkte heissen nun überall gleich.
Welche Software-Lösungen setzen Sie in der IT ein?Vor wenigen Jahren haben wir uns für eine Cloud-First-Strategie entschieden. Das heisst, dass jede neue Lösung oder Plattform, die wir einführen, wenn immer möglich aus der Cloud bereitgestellt wird. Wobei wir bewährte Lösungen am Markt einkaufen, wie beispielsweise Microsoft Office 365. Wenn es aber kein entsprechendes Cloud-Angebot gibt, weichen wir auch auf On-Premises-Lösungen aus. Wir möchten unsere Infrastruktur so schlank wie möglich halten und uns auf die Services konzentrieren. Der Kern unserer Systeme basiert auf SAP. Darum herum haben wir ein Ökosystem aus verschiedenen Applikationen aufgebaut, die spezifische Bedürfnisse abdecken. Diese lokalisieren wir unter Umständen auch, wenn es ein bestimmter Markt erfordert. Vor allem im Bereich des Customer Engagement ist die Lokalisierung von Applikationen oft nötig, um den Gegebenheiten vor Ort Rechnung zu tragen. Als Beispiel sei hier Salesforce genannt, das wir auf die Bedürfnisse des chinesischen und des US-amerikanischen Marktes angepasst haben. Dies im Gegensatz zur Praxis in den 2000er Jahren, in denen oft zentrale und monolithische Strukturen global repliziert wurden. Diese neue Vorgehensweise erfordert oftmals ein erhöhtes Mass an Flexibilität, erlaubt es im Gegenzug aber auch, viel agiler zu sein in der Weiterentwicklung von Systemen.
Entwickeln Sie bestimmte Lösungen auch selbst?Wir entwickeln auch eigene Applikationen, wenn wir am Markt keine passende Lösung finden, so zum Beispiel Apps für unsere Verkaufsmitarbeitenden, die mit Salesforce integriert sind. Diese sollen so einfach wie möglich zu bedienen sein, denn die Verkäufer sollen sich nicht mit IT-Problemen herumschlagen müssen, sondern sich auf die Interaktion mit den Kunden konzentrieren. Wir prüfen aber sehr genau, ob wir etwas selbst entwickeln wollen und wie, und tun dies nur punktuell. Dabei evaluieren wir beispielsweise, ob Applikationen Daten in Echtzeit verarbeiten können müssen oder nicht, denn dies hat einen Einfluss auf die Entwicklung und den Betrieb der Applikation.
Wie gross ist das IT-Team, das Breitling zur Verfügung steht? Und wie setzt es sich zusammen?Ein Grossteil der rund 80 IT-Mitarbeitenden von Breitling ist in der Schweiz tätig, die restlichen in den Niederlassungen, wobei letztere hauptsächlich Support-Funktionen wahrnehmen und die Erfassung von Anforderungen für die Weiterentwicklung der Systeme verantworten. Etwa 30 Prozent unserer IT-Mitarbeitenden sind intern, die übrigen 70 Prozent sind externe Ressourcen. Unser Team ist äusserst agil aufgestellt, auch in Bezug auf dessen Struktur. Alle Funktionen arbeiten nach dem DevOps-Ansatz, sowohl die internen als auch die externen Mitarbeitenden, wir sind ein einziges Team. Die Entwicklung wird hauptsächlich extern abgewickelt, während die internen Mitarbeitenden vornehmlich für den Betrieb der Systeme und die strategische Ausrichtung sowie die Architektur der IT zuständig sind. Damit sind alle zentralen Funktionen im Unternehmen vereint, während uns die externen Partner begleiten und die Plattformen weiterentwickeln. Dieses Modell hat sich für uns bewährt und erlaubt uns, die IT im Bedarfsfall zu skalieren.
Bekunden Sie Mühe, in der Schweiz geeignete Fachkräfte zu rekrutieren?Ganz und gar nicht. Um ehrlich zu sein, halte ich den Fachkräftemangel für eine Illusion. Seit ich in der IT tätig bin, höre ich, dass Fachkräfte fehlen, und gleichzeitig kenne ich sehr viele kompetente IT-Spezialisten, die keine Anstellung finden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass der Fachkräftemangel oft vorgeschoben wird, um die Lohnkosten global zu drücken. In den 25 Jahren, in denen ich in der IT-Welt zuhause bin, hatte ich noch nie Schwierigkeiten, zum richtigen Zeitpunkt kompetente Fachkräfte für eine offene Stelle zu finden. Wahr ist allerdings auch, dass ich in der Vergangenheit, wenn es die Situation aus Gründen der Skalierbarkeit verlangte, manchmal zum Mittel des Outsourcings gegriffen und grosse Entwickler-Teams von hundert oder mehr Leuten in Indien oder China rekrutiert habe. Dies hat jedoch damit zu tun, dass der relativ kleine Schweizer Arbeitsmarkt kurzfristig keine so grosse Menge an Spezialisten bereitstellen kann.
Gibt es besonders interessante Projekte, an denen Sie und Ihr Team gerade arbeiten?Seit rund einem Jahr arbeiten wir an verschiedenen Blockchain-Konzepten im Zusammenhang mit der Produktgarantie. Wir wollen die Blockchain in Zukunft aber auch als weiteren Kanal nutzen, um den Endkundenkontakt zu pflegen. Wir entwickeln dafür ein ganzes Ökosystem, das wir in unsere bestehende IT integrieren wollen. Weitere Initiativen drehen sich um das Thema Machine Learning. Diese Technologie wenden wir auf die Daten an, die wir online oder in den Stores gesammelt haben, um zu verstehen, welche Erwartungen unsere Kunden an uns und unsere Produkte haben. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse speisen wir wiederum in unsere Systeme ein, um fundierte Prognosen daraus abzuleiten, vor allem für die Produktion.
Wie Sie eingangs bereits sagten, ist Innovation ein wichtiger Teil Ihrer Aufgaben. Wie treiben Sie diese voran?Im Laufe meiner Karriere habe ich ein breit gefächertes und globales Netzwerk von Partnern, Freunden und Bekannten rund um die Technologie und die Digitalisierung im weitesten Sinn aufgebaut. Dieses Netzwerk pflege ich aktiv und tausche mich regelmässig mit den Personen darin aus. Ich spreche in diesem Zusammenhang deshalb von Open Innovation, von einem offenen und positiven Austausch zu relevanten Themen. Daraus entstehen immer wieder Ideen, die wir bei Breitling umsetzen können. Diesen Ansatz finde ich zielführender als regelmässige Meetings, in denen man unter Druck steht, innovative Ideen zu entwickeln.
Welchen Stellenwert hat die IT allgemein bei Breitling?Glücklicherweise wird die IT heute nicht mehr als Dienstleistung am Unternehmen verstanden und konnte somit ihr Image als notwendiges Übel weitgehend ablegen. Die IT ist heute auch bei Breitling ein Wegbereiter für die Erschliessung neuer Geschäftsfelder. Sie ermöglicht, neue Fähigkeiten zu entwickeln sowie Bedürfnisse zu antizipieren und bringt kreative Ideen für das Customer Engagement und die Weiterentwicklung des Betriebsmodells hervor. Die IT ist also nicht mehr nur ein Kostenfaktor, sondern ein Alleinstellungsmerkmal. Deshalb sind Investitionen in die IT strategisch wichtig und für den Geschäftserfolg unumgänglich.
Wenn Sie von Investitionen sprechen: Wie hoch ist das IT-Budget von Breitling?In der Industrie beträgt der Anteil der IT-Investitionen in der Regel zwischen 2 und 4 Prozent des Umsatzes eines Unternehmens. Wobei grössere Unternehmen mit einem höheren Umsatz einen eher tieferen Anteil davon in ihre IT investieren. Bei Breitling beträgt dieser Anteil rund 2,5 bis 3 Prozent des Umsatzes. Wie ich immer wieder betone, müssen Unternehmen sich dessen bewusst sein, dass die digitale Transformation kostet. Allerdings kostet es auf lange Sicht wesentlich mehr, ein Unternehmen nicht zu transformieren. So gesehen lohnt es sich, Investitionen in die Digitalisierung frühzeitig zu tätigen, um später nicht weit höheren Kosten gegenüber zu stehen.
Und welche Vision verfolgen Sie mit der IT des Unternehmens in den nächsten ein bis zwei Jahren?Traditionell war die Uhrenindustrie seit jeher produktionsgetrieben. Man hat verkauft, was produziert wurde. Die Vertikalisierung des Vertriebs und die Digitalisierung haben jedoch ermöglicht, dass die Brands näher an den Endkunden heranrücken und umgekehrt. Die Folge davon ist, dass sich das Betriebsmodell gewandelt hat und heute weitgehend von der Nachfrage bestimmt wird. Diese Umstellung ist auf der Ebene der IT noch immer eine grosse Herausforderung und wird uns auch noch länger beschäftigen. Wir müssen daher lernen, die uns zur Verfügung stehenden Daten noch besser zu verstehen und zu nutzen. Denn letztlich soll mit diesen Daten die Nachfrage des Marktes möglichst präzise vorausgesagt werden können, um die Produktion entsprechend zu optimieren und die Kosten weiter zu reduzieren. Ich tendiere jedoch dazu, zu sagen, dass wir in der Industrie weit mehr Daten sowie Tools und technologische Lösungen haben als gute Ideen.
Sie haben in Ihrer Rolle ein breites Aufgabenfeld. Was an Ihrem Job finden Sie besonders befriedigend?Gerade in den letzten zehn Jahren hatte ich die grossartige Gelegenheit, im Kontext meiner Arbeit als Entrepreneur zu agieren. Ich kam mit einem gut gefüllten Rucksack an Erfahrungen in den Bereichen Digitalisierung und Customer Relations aus dem Banking- in den Luxury-Retail-Sektor, in dem es auf diesen Gebieten noch viel nachzuholen gab. Dies gab mir die Möglichkeit, unternehmerisch neue Strategien und Lösungen zu entwickeln, in einem Unternehmen mit einer über 100 Jahre langen und illustren Tradition. Ich kann frei reflektieren und nachdenken, Vorschläge unterbreiten und Dinge umsetzen. Mir gefällt es, Neues zu entwickeln und dabei vielleicht sogar der Erste zu sein. Und wenn nicht, dann will ich es zumindest besser machen als alle anderen. Das ist der schönste Aspekt meiner Arbeit.
Antonio Carriero
Antonio Carriero ist als Sohn eines Italieners und einer Schweizerin im Tessin geboren. Der heute 49-Jährige studierte Mathematik an der EPFL in Lausanne, Informatik an der UNIL in Lausanne und Technology Management an der IMD. Nach der Ausbildung arbeitete er zunächst im Versicherungssektor und war an der Entwicklung einer der ersten Internet-Plattformen in diesem Bereich in der Schweiz beteiligt. Später wechselte er in die Medienbranche und entwickelte mit einem Start-up ein Online-Werbeangebot. Daraus entstand in der Folge Namics, dessen Mitgründer, Partner und CTO er wurde. Weitere Stationen seiner Karriere waren unter anderem Nestlé, IBM und Richemont, bevor er für kurze Zeit Group CIO von Salvatore Ferragamo wurde und im Februar 2018 als Chief Digital & Technology Officer zu Breitling wechselte.
Zum Unternehmen
Breitling ist ein Uhrenhersteller mit Sitz in Grenchen im Kanton Solothurn. Gegründet wurde das Unternehmen um 1884 von Léon Breitling in Saint-Imier im Berner Jura. Seit 2002 werden die Uhren und Chronographen von Breitling ausschliesslich im Werk in La Chaux-de-Fonds hergestellt. Bekanntheit erlangte Breitling vor allem als Produzent von Chronographen, und ab 1936 lieferte das Unternehmen die Borduhren für die Flugzeuge der Royal Airforce sowie ab 1942 Chronographen für die United States Army Air Forces. Heute beschäftigt Breitling weltweit rund 1300 Mitarbeitende, wovon knapp 80 in der IT tätig sind. Im Mai 2017 wurde Breitling von CVC Capital Partners übernommen, und seit Juli desselben Jahres zeichnet der in der Uhrenbranche bestens bekannte Manager Georges Kern für die Geschäfte des Unternehmens verantwortlich.
(luc)
Breitling-Hauptsitz in Grenchen (Quelle: Breitling)