Seit Jahrzehnten erfolgt die Inspektion der Gleise sowie der Umgebung (Streckeninspektion) klassisch zu Fuss durch Fachspezialisten der SBB. Diese gehen bis heute regelmässig den Gleisen entlang und erheben mit ihren Sinnesorganen den Zustand. Teilweise kommen auch Diagnosefahrzeuge zum Einsatz. «Im Zweifelsfall wird die gefundene Abweichung mit Referenzbildern aus einem Abweichungskatalog abgeglichen und entschieden, ob es sich um eine relevante Abweichung handelt oder nicht», erklärt Joël Casutt, Leiter Technologie und Entwicklung, SBB Mess- und Diagnosetechnik.
Ein erster Schritt hin zur Digitalisierung hat hier vor gut fünf Jahren stattgefunden. Die Erfassung und Dokumentation von Abweichungen auf Papier wurde mittels der Einführung von Tablets in der Streckeninspektion abgelöst, wodurch die relevanten Informationen in einer Datenbank gespeichert werden. «Mit dieser Digitalisierung wurde der langzeiterprobte manuelle Prozess optimiert. Über die gesamte Prozesskette betrachtet, grössere Potenziale jedoch nicht ausgeschöpft», so Casutt.
Die manuelle Streckeninspektion ist ressourcenintensiv und erfordert ein breites und tiefes Fachwissen über unterschiedliche Themenbereiche hinsichtlich der zu inspizierenden Objekte. Die Mitarbeitenden sind durch den stark zunehmenden Bahnverkehr zudem einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt. Hinzu kommt, dass bei Strecken mit einer Höchstgeschwindigkeit von 200 Kilometern pro Stunde die manuelle Streckeninspektion aus Sicherheitsgründen nicht gestattet ist.
Die SBB strebt in Zukunft an, die Instandhaltung ihrer Anlagen aufgrund einer Prognose zum Anlagenzustand zu optimieren (Predictive Maintenance). Dabei ist eine uniforme und wiederholbare Datenbasis ein entscheidender Schritt. Dieser kann nur mit einer Systematisierung der Aufnahme des Zustandes erfolgen.
Maschinelle Streckeninspektion
Mit dem Ziel, die Sicherheit der Mitarbeitenden zu erhöhen und die Effizienz sowie die Effektivität zu steigern, wurde die maschinelle Streckeninspektion mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz aktiv angegangen. «Bereits vor der Inbetriebnahme der Neubaustrecke zwischen Bern und Olten (Bahn 2000) wurde 2003 ein Diagnosefahrzeug mit unterschiedlichen Mess- und Inspektionssystemen beschafft, um die Streckeninspektion unter laufendem Betrieb zu ermöglichen. Eines der installierten Systeme bestand aus einer Reihe von Zeilenkameras zur hochauflösenden Aufnahme des Gleisbereiches sowie einer Auswertesoftware auf der Basis von klassischen Bildverarbeitungsalgorithmen. «Dieses System war zum Beschaffungszeitpunkt das modernste seiner Art und erst durch den Durchbruch der digitalen Fotografie und Fortschritten in der digitalen Bildbearbeitung möglich. Das System musste über die letzten Jahre mit grossem Aufwand laufend an die sich ändernden Anforderungen angepasst und optimiert werden», so Casutt. Die Auswertesoftware kam bis heute auf der Bahn-2000-Strecke zur Anwendung. Mit der geplanten Ausweitung der Automatisierung auf weitere Streckenabschnitte nimmt der Ressourcenaufwand zur Validierung zwischen falsch gefundenen (False Positives) und effektiven Fehlern zu stark zu.
Neue Ansätze sind gefragt, damit die Algorithmen flexibler und einfacher auf weiteren Strecken sowie bei neu eingesetzten Bahnkomponenten zur Anwendung kommen können. Es braucht eine Lösung, die basierend auf den Informationen der Fachspezialisten selbständig dazu lernt und nicht immer fortlaufend durch Software-Spezialisten zu optimieren ist.
Neuronale Netze als Lösung
Die SBB hat 2017 einen ersten Proof of Concept mit einem externen Partner lanciert und neuronale Netze als möglichen Ersatz der bestehenden Algorithmen in Betracht gezogen. «Damals wurde zusammen mit dem CSEM in Alpnach ein Innosuisse-Projekt mit erfolgsversprechenden Resultaten durchgeführt», erklärt Casutt. Die Ziele des Projekts waren zum einen das Erarbeiten von Algorithmen zur Detektion von Schienenoberflächenfehlern und zum anderen die Erarbeitung eines Algorithmus zur eineindeutigen Identifikation (Fingerprinting) für diese Fehlerbilder. Hierbei übernahm das CSEM Alpnach die Entwicklung der Algorithmen und die SBB stellte den Businessbezug sowie die Einbindung in deren IT-Systemlandschaft sicher.
Das Anforderungsprofil und das Erfüllen der gesteckten Ziele an das neue, KI-basierte System sah deshalb sehr anspruchsvoll aus. «Grundsätzlich sollte der manuelle Aufwand beim Nachvalidieren verkleinert werden», erklärt Casutt. Primärer Hebel dazu sei die Reduktion von False-Positive-Resultaten bei gleichbleibender Detektionsrate auf der einen Seite und Wiedererkennen von bereits validierten Abweichungen auf der Anderen. «Wenn eine Abweichung wiedererkannt und eindeutig identifiziert werden kann, wird auch der Aufwand zum Validieren verkleinert. Die Abweichung wird nur noch neu validiert, wenn sie sich seit der letzten Messfahrt verändert hat.»
Hürde manueller Aufwand
Die Integration der Künstlichen Intelligenz und die Implementierung des Systems ist soweit gelungen und die SBB setzt den ersten Algorithmus nun bereits produktiv ein. Die Operationalisierung dauerte dabei rund ein Jahr. «Insbesondere der Aufbau eines Feedbackloops, um die Algorithmik immer weiter mittels Machine Learning zu verbessern, hat einiges an architektonischer Anpassung ausgelöst», meint Casutt dazu und ergänzt: «Unsere Lösung wird nun zur Referenzarchitektur für solche Systeme innerhalb der SBB.»
Ausgelöst wurden die Bestrebungen, die maschinelle Streckeninspektion mit Hilfe neuronaler Netze durchzuführen, durch den manuellen Aufwand beim Validieren der False Positives: «Wie bereits beschrieben hatten wir Probleme mit dem manuellen Aufwand, der nötig war, um die False-Positive-Resultate der klassischen bildverarbeitenden Algorithmen zu validieren», so Casutt. «Hierbei sprechen wir von Tausenden von Bildern, welche von Menschen angeschaut und bewertet werden mussten.»
Von der Idee, Künstliche Intelligenz einzusetzen, bis zum finalen System galt es mehrere Knackpunkte zu meistern, erinnert sich Joël Casutt. Einerseits stellte die zu geringe Bandbreite des Netzwerks ein Problem dar, um die sehr grossen Rohbilder zu transportieren, andererseits musste die Anzeigesoftware so erweitert werden, dass ein Feedbackloop zurück zum Modell zu Trainingszwecken möglich wurde. Ein weiterer entscheidender Punkt war es, das Releasemanagement so auszuweiten, dass künftig nicht nur neue Releases der Algorithmen, aber auch neue Trainingsdatensätze und die resultierenden Konfigurationen der Modelle berücksichtigt werden können. Schlussendlich musste eine performante Umgebung für das Inferencing, also das Ziehen von Schlussfolgerungen aus den Daten, gefunden werden.
Daten in die geeignete Form bringen
Die Erkenntnisse aus dem Projekt sind vielfältig und in vielerlei Hinsicht positiv. «Der Algorithmus ist wesentlich zuverlässlicher und reproduzierbarer als seine klassischen Vorgänger», so Casutt. «Er ist etwa weniger anfällig auf Änderungen der Licht- oder klimatischen Verhältnissen.» Auch die False Positives seien markant zurückgegangen und die Detektionsrate sei wesentlich besser. Zudem würden nahezu alle Veränderungen der Schiene ausgegeben. «Diese sind zu einem Teil aber nicht kritisch und werden in der manuellen Nachkontrolle wieder aussortiert», so Casutt. Es handle sich dabei nicht um False Positives, aber sie verursachen dennoch manuellen Mehraufwand. «Wir sind zurzeit daran zu entscheiden, ob wir die Tresholds des Modells anpassen, oder ob wir unkritische False Positives eher mit dem kommenden Fingerprinting abfangen wollen», erläutert Casutt.
Alles in allem hat Casutt einige Tipps in petto, wenn es darum geht, KI-Systeme zu entwickeln oder in bestehende Systeme zu integrieren: «Der Husarenakt ist eindeutig die Daten in eine geeignete Form zu bringen und grundlegend zu verstehen.» Die Frage, ob integriert werden oder ob ein System neu gebaut werden soll, hänge derweil extrem vom vorhandenen Zustand ab. «Klassische IT-Architekturen sind nicht geeignet, um trainierbare Algorithmen vernünftig zu integrieren», so Casutt. «Insbesondere das Releasemanagement und Feedbackloops sind grosse Hürden.»
Das grösste Potenzial für die Anwendungen von Künstlicher Intelligenz sieht Casutt künftig überall dort, wo maschinell Entscheidungen getroffen werden müssen. «Neuronale Netze machen vermutlich vor allem dort Sinn, wo die äusseren Umstände verändernd oder schwierig sind», meint Casutt.
(swe)