Wer die 90er-Jahre miterlebte, der durfte auch die goldenen Zeiten der Finanzindustrie beobachten. Viele erhielten ab der Uni einen super Job, etwa als Software-Entwickler mit rosigen Aussichten. Das waren die 90er Jahre. Heute steht es in unserer Verantwortung, auch den jungen Generation eine ähnliche Perspektive zu geben. Und zwar nicht, in dem wir dieser ein Erbe mit einem dicken Bankkonto und Immobilien hinterlassen. Sondern eine Perspektive für eine nachhaltige und gesunde Schweizer Wirtschaft. Ausser Hirnmasse hat die Schweiz keine eigenen Rohstoffe. Neben der Finanzwirtschaft, Schokolade und Uhren, sollten wir Schweizer einen weiteren starken Industriezweig aufbauen, der uns und den kommenden Generationen den bisherigen Wohlstand weiter bescheren wird.
Die Schweiz kann weltweit eines der führenden fünf Kompetenzzentren für Künstliche Intelligenz (KI) werden. Im Idealfall hängen in drei Jahren an unseren Flughäfen nebst Werbetafeln für Uhren, Schokolade und Banken auch welche für kognitive Technologien.
Öffentliche Wahrnehmung
Die öffentliche Wahrnehmung über die Bedeutung von KI für die Schweiz, ob als Bürger, Kunde oder individuelle Person, ist hingegen noch nicht weit fortgeschritten. Technologien verändern nicht nur Geschäftsprozesse, sondern eben auch unsere Gesellschaft, und somit auch unsere Arbeitswelt. Die Bevölkerung hat ein Anrecht zu wissen, was man heute mit KI effektiv schon machen kann, wie weit fortgeschritten die Schweiz ist oder ob wir eben noch in den Kinderschuhen stecken. Leider wird hier oft mit Science Fiction und Terminator-Bildern Angst geschürt. Die Medien müssen hier mehr zur faktischen Aufklärung über die Technologien beitragen. Dann könnten die Diskussionen am Küchen- und Stammtisch eine realistischere Richtung nehmen. Schlussendlich reden wir nach wie vor von Algorithmen, welche nur in sehr eng definierten Feldern eingesetzt werden können (Single Purpose). Weltweit erfolgen die ersten Schritte mit dem Einsatz von kognitiven Technologien. Die Superintelligenz, welche uns allen Angst bereiten würde, ist heute ein theoretischer Entwurf ohne Realitätsbezug. Deshalb muss die Debatte versachlicht werden, und zwar dringend. Anderenfalls laufen wir Gefahr, uns auszubremsen und den Anschluss zu verlieren, weil uns die Angst hemmt.
Forschung und Innovation
In Forschung und Entwicklung in globalen Unternehmen, KMU und Start-ups ist KI bereits ein wichtiger und anerkannter Faktor in der Schweizer Wirtschaft. Von der schieren Grösse her können wir aber nicht mit der Forschung und Entwicklung in den USA oder China mithalten. Universitäten und Akademien in der Schweiz betreiben aber hochrangige und weltweit anerkannte multidisziplinäre Entwicklungen. Es gibt im Bereich AI noch viel zu forschen, zum Beispiel über «explainable» Algorithmen. Dazu ist es wichtig, dass sich AI praktisch anwenden lässt, in verschiedenen Industriebereichen und mit hochkompetitiven neuen Technologien wie zum Beispiel Blockchain. Die Entwicklung der letzten Jahre rund um Deep Learning ist enorm und eröffnet komplett neue Anwendungsbereiche in hochkomplexen Datenräumen.
Künstliche Intelligenz & KMU
Unser Land ist geprägt von rund 600’000 KMU. Die KMU haben schon mit der Entwicklung rund um die Digitalisierung ihre Investitionen zu tragen. Jetzt kommen weitere Schritte für kognitive Technologien dazu. Stand bei der Digitalisierung mehrheitlich die Effizienz des Unternehmens im Vordergrund, werden mit Künstlicher Intelligenz vor allem die Produkte und Dienstleistungen verändert. Wie dies geht und wie dies im globalen Rennen um die Veränderungen von ganzen Branchen zu verstehen ist, ist genau die Herausforderung. Innovation und Kreativität ist hierbei gefragt. Die Fähigkeit umzudenken und Vorurteile zu brechen wird unumgänglich. Umso wichtiger ist es, dass wir uns in der Schweiz austauschen, voneinander lernen und uns gegenseitig unterstützen.
Wirtschaftlichkeit und erste Schritte
Bei der messbar produktiven Implementierung von kognitiven Technologien stehen wir, gemessen am BIP, erst am Anfang. Jedoch muss an dieser Stelle auch betont werden, dass in der Schweiz schon einiges läuft. Nun gilt es allerdings, die Erwartungen richtig einzuordnen und die Firmen zu motivieren, sich mit den realen Möglichkeiten in ihrem Business auseinanderzusetzen und sich gegenseitig auszutauschen. Insbesondere, da um den Begriff AI ein Hype besteht, der manchmal den klaren Blick trübt.
Infrastrukturelle Voraussetzungen
Cloud Computing ist für eine AI-Strategie absolut zentral. Allerdings wird die Cloud bis zum heutigen Tag meist über Economy of Scale definiert – tiefer Preis pro Einheit. Dies ist nicht nur falsch und irreführend, sondern lässt uns am echten Potenzial der Cloud nicht teilhaben. Cloud bedeutet nicht einfach bessere Kostenstruktur. Cloud heisst Economy of Scope, mit neuen Zugängen zu Funktionalität und Businessnetzwerken, welche On-Premises nicht zu haben sind. AI bedient sich genau diesem Konzept – AI-Services werden heute global angeboten und weiterentwickelt. Die AI-Räder selbst zu erfinden macht schlicht keinen Sinn. Wer seine Datenarchitektur und Governance nicht offen gegenüber der Cloud und APIs gestaltet, wird keinen vernünftigen Technologien-Stack für AI-Lösungen aufbauen können.
Radikale Veränderungen in den Märkten
In Kombination mit anderen Schlüsseltechnologien wie Blockchain, Robotics und Quantum Computing werden wir sehr radikale Veränderungen der Wertschöpfung erleben. Für die, die sich noch nicht ernsthaft mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, ist es nun höchste Zeit. Das heisst nicht, dass AI schon eingesetzt werden muss. Aber es gilt sich, die Mitarbeiter und die Firma gedanklich und emotional darauf vorzubereiten und das Potenzial ernsthaft zu diskutieren. Wenn Unternehmen durch Technologien wie AI Erkenntnisse über Märkte und Kunden vergrössern, das eigene Handeln optimieren, die Innovation beschleunigen und die Firmen-eigenen Talente besser einsetzen können – dann werden sie dies tun.
Welche Rahmenbedingungen hat die Schweiz geschaffen?
Die Schweizer Hochschulen und Forschungsinstitute gehören zu den weltbesten. Wir können mit allen Ländern und Kulturen dieser Welt geschäften. Wir verfügen über eine stabile politische und wirtschaftliche Situation. Entrepreneurship ist Teil unserer DNA. Es soll niemand behaupten, wir seien kein Land von Start-ups. Der grosse Unterschied zu Israel besteht etwa darin, dass wir unsere Geschäfte mehrheitlich mit einer langfristigen und Generationen übergreifender Strategie verfolgen und nicht primär mit einer Exit-Strategie.
Wirtschaftliche Vorteile der Schweiz beim Einsatz von KI
Die Schweiz ist wirtschaftlich hervorragend in den Handel im europäischen Binnenmarkt und globalen Markt integriert. Laut der Bertelsmann Stiftung hat Kleinräumigkeit, hohe Produktivität und eine stetige Wettbewerbsfähigkeit einen entscheidenden Vorteil in der Handelsbilanz einzelner europäischer Länder. Der verstärkte Handel trägt wiederum zur Wirtschaftsleistung bei und schafft mehr Wohlstand. Die Studie zeigt sogar auf, dass die Schweiz pro Kopf die grössten wirtschaftlichen Vorteile im Binnenmarkt erarbeiten kann.
Die Übersichtlichkeit der Schweiz und ihre hohe organisatorische Kapitalisierung ist weltweit unangefochten. Der Dank geht an die Alpengeografie, zumindest für die Kleinräumigkeit.
Bei der Produktivität beziehungsweise Arbeitsproduktivität ist die Spitzenposition eins seit 1990 nicht mehr in Stein gemeisselt. Die Schweiz hinkt Deutschland, den USA, Österreich und Frankreich hinterher. Dafür mag es verschiedenen Gründe geben. Sie reichen von der relativ hohen Beschäftigung auch von Mittel- und Geringqualifizierten bis hin zu schwachen Investitionen.
Als Land ohne Ressourcen und einer nominal hohen Kostenstruktur geht dieser langfristige Trend jedoch nicht mehr auf. Die Wissenschaftler des RWI und der Universität St. Gallen erklären, «Hinzu kommt, dass die Entwicklung der Arbeitsproduktivität in der Schweiz seit Ende der 1990er-Jahre hauptsächlich von drei Wirtschaftszweigen geprägt wird: von der Finanzbranche, dem Handel (vor allem Rohstoffhandel) sowie der Life-Sciences-Industrie. Dies stellt ein erhebliches Klumpenrisiko dar, wie sich in der Finanzkrise zeigte. Sowohl der Finanzbranche als auch dem Grosshandel hat sie stark zugesetzt. Der Beitrag dieser zwei Branchen zum gesamten Produktivitätswachstum sank von 1,3 Prozent (2003 bis 2007) auf 0 Prozent in den Jahren 2008 bis 2013.»
Produktivitätswachstum ist also Aufgabe aller Sektoren. Für die Wirtschaft und insbesondere für KMU heisst dies, den Strukturwandel aktiver angehen. Und genau hier ist die Kombination zwischen neusten Technologien und bestem Wissen so entscheidend. Quasi die wirtschaftliche Ursuppe der Schweiz. Oder anders gesagt, hohe Kostenstrukturen sind nur dann marktwirtschaftlich gerechtfertigt, wenn sie auch überdurchschnittliche Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit hervorbringen.
Wollen wir unseren Schweizer Wohlstand erhalten, was wohl niemand ernsthaft in Frage stellen möchte, tun wir gut daran die Fakten ernst zu nehmen. Erhöhte Investitionen und Technologienutzung, freier Handel und beste Infrastrukturen, Bildung und Forschung sind laut der RWI und der HSG kritische Erfolgsfaktoren für die Schweiz.
Wo kann die Schweiz eine weltweite Rolle einnehmen?
Wo wir Schweizer in eine aktive und wichtige Verantwortungsrolle kommen sollten, ist in der Diskussion über die ethischen Fragen rund um AI. Mit unserer Neutralität und weltweiten Akzeptanz als Gesprächs- und Verhandlungspartner sind wir prädestiniert dazu, unsere Wertvorstellungen als Rahmenbedingungen im Umgang mit AI zu stellen.
Die Schweiz kann sich, davon sind viele überzeugt, zu einem der Top 5 globalen Kompetenzzentren für kognitive Technologien entwickeln. Wer heute beispielsweise an Cyber Security denkt, dem kommt als erstes Israel in den Sinn. Diesen Mechanismus wünschen wir uns in der Schweiz in Bezug auf kognitive Technologien: Wer an AI denkt, dem soll als erstes die Schweiz einfallen.
Synergien zwischen Mensch und Maschine nutzen
Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, dass nicht alles, was hohes Realisationspotenzial hat, auch wirklich entwickelt und eingesetzt wurde. Die Gesellschaft bestimmt sehr stark, welche Technologien wir auf welche Art und Weise einsetzen wollen. Dazu kommt noch, dass wir als Menschen getrieben sind, Lösungen für Probleme zu finden, welche wir uns selbst geschaffen haben.
Es steht deshalb in unserer Verantwortung und ist unsere Aufgabe, die enormen Chancen, welche Künstliche Intelligenz der Menschheit ermöglicht, bewusst zu nutzen und die Ängste und Risiken dabei gleichzeitig ernst zu nehmen.
Der Mensch wird dabei nicht redundant, wie es viele befürchten. Es sind viel mehr Arbeitsschritte und Teilbereiche, die uns abgenommen werden können und uns in vielen Bereichen helfen können, gesünder und sicherer zu leben sowie effizienter und effektiver zu handeln.
Sozialkompetenz, Kreativität und Improvisation sind menschliche Stärken – skalierbare Leistung hingegen diejenige der Maschinen und Alogrithmen. Nun geht es darum, das Potenzial der Synergien zwischen Mensch und Maschine zu nutzen: Sei es in der Industrie, im Klassenzimmer, in der Wissenschaft oder im öffentlichen Leben.
Terminologie
Künstliche Intelligenz/Artificial IntelligenceGanz allgemein ein Teilgebiet der Informatik, dass sich mit Automatisierung befasst. Je nach Definition können mit den Ausdrücken ganz unterschiedliche Dinge gemeint sein, von der selbstdenkenden Maschine bis hin zum aus Erfahrungen oder Daten lernenden Algorithmus.
Machine LearningEine Unterkategorie von AI, die eine Menge von Algorithmen und Systemen beschreibt, durch welche es möglich gemacht wird, aus Daten neue Erkenntnisse zu gewinne, also quasi zu lernen.
Deep LearningEine Subgruppe der Machine-Learning-Familie, die mit bestimmten Algorithmen, etwa Neuronalen Netzen oder Representation Learning arbeitet.
Die Autoren
Dalith Steiger ist Mitgründerin des Start-ups Swisscognitive – The Global AI Hub und wurde in Israel geboren, wuchs aber in der Schweiz auf. Sie studierte Mathematik und Wirtschaftsinformatik an der Universität Zürich. Angetrieben von ihrer Leidenschaft für kognitive Technologien setzt sich die Entrepreneurin gemeinsam mit ihrem Co-Founder Andy Fitze für einen kompetitiven Werkplatz Schweiz und die jungen Generation ein. Andy Fitze ist zudem Präsident des Swiss IT Leadership Forum sowie im Vorstand von ICTSwitzerland und SwissICT. Zuvor war er als Group CIO der Ruag tätig. Andy Fitze ist Elektroingenieur und hat einen Executive MBA der Universität St. Gallen.