Was haben die bisherigen Entwicklungsschübe in der Gesundheitsbranche gebracht?Dr. Patrick Dümmler: Der Zugang zu einer Gesundheitstechnologie, die sich ständig weiterentwickelt, ist einer der wichtigsten Faktoren für die weltweit steigende Lebenserwartung. Dank Verbesserungen bei Pharmazeutika, Medizintechnik oder Diagnostik ist die Lebenserwartung in den vergangenen 35 Jahren um rund 10 Jahre gestiegen. So hatte eine 1980 geborene Frau im globalen Durchschnitt eine mittlere geschätzte Lebenserwartung von 63,7 Jahren, für Männer waren es 59,6 Jahre. 2015 waren es schon 74,8 Jahre bei Frauen und 69,0 Jahre bei Männern.
Die globale Lebenserwartung stieg, weil wichtige Fortschritte in der Health-Tech-Forschung und dem Zugang zu Gesundheitsleistungen erzielt werden konnten. Malaria, eine der am meisten verbreiteten und gefährlichsten Krankheiten, forderte 2015 weltweit 730'500 Todesfälle. Dies sind immer noch zu viel, aber immerhin rund 37 Prozent weniger als noch zehn Jahre zuvor. Ein weiteres Beispiel ist die weltweit stark sinkende Kindersterblichkeit. Starben von 1000 Lebendgeburten 1960 noch 180 Kinder unter fünf Jahren, waren es 2012 noch knapp 50. Auch die Todesfälle aufgrund von Krebs sind in den meisten Ländern stark zurückgegangen. Ursachen sind die Möglichkeit der früheren Diagnose sowie neue oder kombinierte Präparate zur Bekämpfung von Krebs. Gerade der Standort Schweiz hat dank der Forschung, Entwicklung und Produktion von Pharmazeutika massgeblichen Anteil an dieser globalen Entwicklung.
Innovationen treiben die Nachfrage an. Was sind die Folgen, ausser der steigenden Lebenserwartung?Zu den Folgen gehören steigende Kosten des Gesundheitswesens in den meisten Ländern. Denn noch bevor der Effekt von Innovationen in Form der Lebenserwartung gemessen werden kann, machen sich die Ausgaben für die Zugänglichkeit, die Ausstattung und die Qualität des Gesundheitswesens bemerkbar. Im Vergleich mit anderen OECD-Ländern besitzt die Schweiz eine weit überdurchschnittliche Anzahl an CT-Scannern, MRI-Geräten, Mammografen oder Betten pro Kopf der Bevölkerung. Bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf nimmt die Schweiz eine der Spitzenpositionen ein. Auch relativ zum Bruttoinlandprodukt (BIP) stiegen die Ausgaben stark an: Betrug der Anteil 1960 noch 4,8 Prozent, stieg er bis 2013 auf 10,9 Prozent des BIP. In den letzten Jahren dürfte der Anteil weiter gewachsen sein.
Die Nachfrage nach "Gesundheit" wird trotz den Klagen über steigende Krankenkassenprämien, die jeden Herbst laut werden, weiter hoch bleiben. Es fehlt an Anreizen, effektiv und mittels einer stärker volkswirtschaftlichen Betrachtung eines Krankheitsfalls Kosten zu sparen. Ein wesentliches Problem ist, dass die heutige Finanzierung des Gesundheitswesens durch eine Vielzahl von Stakeholdern geprägt ist. Es entstehen mitunter Anreize, die nicht das Wohl des Patienten im Fokus haben. So bezahlt der Staat im stationären Bereich (Spital) rund 55 Prozent der Kosten, die Krankenkasse 45 Prozent. Im ambulanten Bereich (Tagesklinik, Arztpraxis) übernimmt die Krankenkasse jedoch die gesamten Kosten. Damit besteht die Gefahr, dass sich die Behandlung an den Interessen der Zahler und nicht an der Diagnose oder an der effizientesten Leistungserbringung ausrichtet.
Was sind Ihrer Einschätzung nach die grössten Herausforderungen eines stärker digitalisierten Gesundheitswesens?Digital basierte Lösungen verschlanken und verbessern Prozesse, sie dürften in vielen Fällen mittelfristig Kosten einsparen. Kurzfristig sind aber oft beträchtliche Investitionen zu tätigen, die kostentreibend sind. Wichtig ist, den konkreten Nutzen neuer Angebote zu hinterfragen. In einigen Ländern, etwa im Vereinigten Königreich, gehören rigide Kosten-Nutzen-Analysen zu den Voraussetzungen für eine Vergütung über die Versicherung. Dabei müssen neue Produkte oder Verfahren entweder mindestens gleich gute Resultate wie bestehende Lösungen bringen, aber zu tieferen Kosten. Oder sie bringen einen markanten Nutzenzuwachs in Form einer rascheren Genesung, höherer Lebensqualität oder zusätzlicher Lebensjahre für den Patienten. Die relevante Frage dabei ist, was konkret als markanter Nutzenzuwachs zu bezeichnen ist und welche (zusätzlichen) Kosten dafür in Kauf genommen werden sollen. Neue Behandlungsmöglichkeiten werfen damit immer drängendere ethische Fragen auf.
Wo steht die Schweiz in der Umsetzung der Digitalisierung?Gemäss der Untersuchung von digital.swiss beträgt der Ausschöpfungsgrad bei den neuen digitalen Lösungen im Gesundheitswesen der Schweiz noch magere 39 Prozent. Wir stecken damit erst am Anfang. Dänemark beispielsweise ist bereits einen Schritt weiter. Seit Jahren sind dort alle relevanten Akteure der Branche, etwa Spitäler, Arztpraxen, Apotheken oder die Versicherungen, über eine Plattform miteinander digital vernetzt. Die Schweiz hat es verpasst, bei Gesundheitsplattformen führend tätig zu werden und Produkte zu entwickeln, die im grösseren Umfang exportfähig wären.
Wie werden sich Angebot und Nachfrage nach E-Health oder noch stärker softwarebasierten Produkten entwickeln?E-Health-Produkte, beziehungsweise benutzerfreundliche, intelligente und möglichst mobile Gesundheitsanwendungen, dürften weiter an Bedeutung gewinnen und die Diagnose sowie Therapieansätze verbessern. Doch der Technologieschub stoppt nicht damit. Wir sehen neue mechatronische Lösungsansätze wie die Entwicklung von innovativen Prothesen oder Exoskeletten, die für behinderte Menschen die Lebensqualität weiter verbessern könnten. Auch hier braucht es neben aller Mechanik und Elektronik intelligente Software. Oftmals ist es die Software, die den eigentlichen Kern der heutigen Innovation ausmacht. So können Ärzte von einer softwaregestützten Interpretation in der bildgebenden Diagnostik profitieren.
Sehen Sie auch Herausforderungen?Eine grosse Schwierigkeit besteht darin, die Zusammenarbeit der einzelnen Akteure in der Wertschöpfungskette «Gesundheit» zu verbessern. Digitale Daten und Plattformen nützen wenig, wenn der Verwaltungsaufwand zu hoch ist und Nutzer keinen direkten, persönlichen Mehrwert erkennen. Viele Patienten würden zwar gerne selbst ihre Gesundheitsdaten digital verwalten, schrecken aber davor zurück, wenn es konkret wird. Ängste, dass die Daten in falsche Hände geraten könnten, sind weit verbreitet. Die Akzeptanz neuer Technik nimmt ab, sobald das Missbrauchspotenzial hoch ist oder Automatisierung die soziale Interaktion wie das persönliche Gespräch mit einem Arzt oder mit dem Pflegepersonal substituieren soll. Zukünftige Health Tech ist damit eher ein Enabler als ein Substitut. Nicht nur technologische, sondern auch mentale und regulatorische Hürden sind für die Digitalisierung des Gesundheitswesens zu überwinden.
Wie beurteilen Sie die Regulierungsdichte, insbesondere die Zulassung von neuen Health-Tech-Produkten?Stehen bei der Rückvergütung einer Leistung oder eines Produktes vermehrt Kosten-Nutzen-Überlegungen im Zentrum, geht es bei der Marktzulassung um Risikoüberlegungen. Bevor ein neues Produkt zugelassen wird, muss es auf Herz und Nieren geprüft werden. Dies ist begrüssenswert, will man doch Patienten keinem unnötigen Risiko aussetzen. Doch die Prüf- und Nachweisvorschriften werden immer aufwändiger, um möglichst das kleinste Restrisiko auszuschliessen. Die Folge davon ist, dass sich die Markteinführung eines neuen Produktes verzögert. Allenfalls so stark, dass Patienten, die vom neuen Produkt hätten profitieren können, aufgrund ihrer Krankheit bereits irreversible Gesundheitsschäden davongetragen haben. Es sollte in Zukunft stärker zwischen Risikominderung und den Opportunitätskosten abgewogen werden.
Welche Chancen haben kleinere, softwarebasierte Unternehmen im Gesundheitsumfeld?Die verstärkte Digitalisierung der Gesundheitstechnologie ermöglicht es, bestehende Strukturen, Prozesse und Lösungen zu hinterfragen. Dies ist eine Chance für das Gesundheitssystem, sich für die Zukunft fit zu trimmen mit dem Ziel, die Versorgungsqualität zu vertretbaren Kosten weiter zu verbessern. Gerade für kleinere, softwarebasierte Unternehmen bieten sich Opportunitäten wie selten zuvor, in diesen Markt einzusteigen. Das regulatorische Korsett der Schweiz sollte deshalb möglichst lose gestrickt sein, so dass digitale Innovationen gefördert statt von Anfang an behindert werden. Die Schweiz ist sehr gut positioniert, um auch in Zukunft eine tragende, globale Rolle im Health-Tech-Bereich zu spielen. Diese Chance sollte nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, zum Nutzen von Millionen von Patienten weltweit.
Dr. Patrick Dümmler
Dr. sc. ETH Zürich und lic. oec. publ., Senior Fellow und Forschungsleiter Offene Schweiz bei Avenir Suisse. Tätigkeiten in der Unternehmensberatung mit Fokus auf Medizintechnik- und Pharma-Unternehmen. Aufbau und Leitung des Industrievereins Medtech Switzerland als Managing Director mit Schwerpunkt auf der Erschliessung ausländischer Märkte für Schweizer Medtech-Unternehmen.