"Ein langer Weg mit disruptivem Innovationspotenzial - trotz oder wegen regionaler Umsetzung?"

Interview: Fridel Rickenbacher

Nicolai Lütschg ist Geschäftsführer der Stammgemeinschaft E-Health Aargau. Seiner Einschätzung nach liegen die Schwierigkeiten nicht beim Gesetzgebungsprozess zum Bundesgesetz über das elektronische ­Patientendossier (EPDG), sondern vor allem bei der Umsetzung auf kantonaler oder regionaler Ebene.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2016/12

     

Wie ist Ihre Einschätzung zum Bundesgesetz EPDG und E-Health aus der Sicht einer Stammgemeinschaft?
Nicolai Lüschg: E-Health ist für mich eine Frage der Vision. Welches Bild haben wir vom Gesundheitswesen in 20 Jahren? Wie sollen Gesundheitsfachpersonen künftig zusammenarbeiten?
Bei einer immer älter werdenden Bevölkerung mit tendenziell komplexeren Krankheitsbildern und immer mehr verschiedenen, in die Behandlung involvierten Leistungserbringern, ist der Handlungsdruck heute schon gross - in Zukunft wird er noch grösser werden. Mit der Verabschiedung des Bundesgesetzes über das elektronische Patientendossier (EPDG) hat das Parlament im Juni 2015 ein Zeichen gesetzt und den Weg für einen besseren und effizienteren Informationsaustausch im Gesundheitswesen geebnet - und damit auch für eine besser koordinierte Versorgung.


In welcher Projektphase stehen die meisten Stammgemeinschaften in der Schweiz?
Wir stehen im Kanton Aargau mitten in der Umsetzung: Wir sammeln Erfahrungen im Datenaustausch wie er im EPDG vorgesehen ist, ebenso in der direkten Kommunikation zwischen Gesundheitsfachpersonen und deren Institutionen. Dies, weil wir überzeugt sind, dass beides nicht getrennt werden darf, um allen involvierten Akteuren und vor allem den Patientinnen und Patienten vollen Nutzen zu bieten.
Serie EPDG
Am 29. Juni wurde die Anhörung des Ausführungsrechts zum Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG) abgeschlossen. 2017 soll das Gesetz in Kraft treten. Es stellt grund­legende Weichen für die Digitalisierung des Schweizer Gesundheitswesens. Das swissICT Magazin beleuchtet in einer Serie Technologie- und Security-Aspekte des Gesetzes aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In dieser Ausgabe beleuchten wir das Thema aus Perspektive einer sogenannten Stammgemeinschaft. Stammgemeinschaften können - wie im Fall Aargau - als Verein organisiert sein und Patientinnen und Patienten zusätzlich zu den allgemeinen Aufgaben des Gesundheitssystems weitere Dienste anbieten, zum Beispiel die Eröffnung eines elektronischen Patientendossiers.
Wie ist eine solche Stammgemeinschaft zusammengesetzt und organisiert? Wie steht es um die Interdisziplinarität der Akteure?
Die Stammgemeinschaft E-Health Aargau wurde im November 2015 gegründet. Basis bildete der Trägerverein E-Health Aargau, der wiederum aus dem Kernteam des Programms E-Health Aargau 2012-15 hervorgegangen war. Der Vorstand besteht aus Vertretern aller Leistungserbringer: Akutspitäler, Apotheker, Ärzte, Institutionen der Langzeitpflege, Rehakliniken sowie Spitex. Wir sind die erste explizite Stammgemeinschaft in der Schweiz und wollen weiterhin vorne dabei sein.
Wir arbeiten mit zwei organisatorischen Konstrukten, da eine Mitgliedschaft in der Stammgemeinschaft nur für Gesundheitsfachpersonen und deren Institutionen möglich ist. Es haben aber auch Akteure wie der Kanton, Patientenorganisationen oder die Industrie ein Interesse an der Mitgestaltung des elektronischen Patientendossiers. Dies kann nur über eine Trägerschaft erreicht werden.
Seit der Gründung der Stammgemeinschaft im November 2015 wurde die strategische Führung durch den Vorstand um die operative Komponente erweitert: Seit Anfang August bin ich als Geschäftsführer der beiden Vereine für die operativen Belange zuständig und stehe damit direkt in der Verantwortung für den Aufbau und die Zertifizierung der Stammgemeinschaft E-Health Aargau.
Wo stehen Sie auf der Zeitachse und was sind die aktuellen Herausforderungen bei der Etablierung des elektronischen Patientendossiers?
Wir planen, das elektronische Patientendossier gemäss EPDG frühestens Ende 2018 anzubieten; davor wird der Bund gar nicht bereit sein. Es müssen immerhin die zentralen Abfragedienste bereitgestellt, Anbieter von Zertifizierungsdiensten akkreditiert und Herausgeber von Identifikationsmitteln zertifiziert werden. Die den Schweizer Bedürfnissen angepassten Integrationsprofile müssen ebenfalls im Zusammenspiel getestet werden.


Mit dem EPDG und E-Health werden Bereiche reguliert, die Generationen prägen werden und auch informations-ethische Fragen aufwerfen. Es geht um personensensitive Daten bei welchen die Datenhoheit und mindestens die Mitbestimmung der Datennutzung letztlich beim Patient und Bürger liegt. Was macht eine Stammgemeinschaft in diesem Bereich?
Der Patient wird völlig neue Mittel erhalten, den Zugriff auf seine medizinischen Daten im EPD zu steuern, denn: auch heute findet ein Austausch per Post, Fax oder auch elektronisch statt. Es ist für ihn aber selten transparent, wer alles auf was Zugriff hat. Das wird sich mit dem EPDG ändern und damit verändert sich das Arzt-Patienten-Verhältnis nachhaltig. Der Patient erhält heute nur auf Anfrage Einblick in seine behandlungsrelevanten Daten. In Zukunft wird der Zugang zu den eigenen behandlungsrelevanten Daten alltäglich sein.
Wie beurteilen Sie die Regulierungsdichte der Verordnungen in Bezug auf die Zertifizierung von Gemeinschaften und Stammgemeinschaften?
Aus meiner früheren Tätigkeit als Gesamtprojektleiter EPDG kenne ich die Herausforderung bei der Rechtssetzung in einem technisch volatilen Umfeld aus eigener Erfahrung. Der Bund steht beim EPDG, speziell bei den Inhalten der technischen und organisatorischen Zertifizierung von Gemeinschaften und Stammgemeinschaften, vor der Situation, dass er von Gesetzes wegen Zertifizierungsvoraussetzungen für Gemeinschaften und Stammgemeinschaften erlassen muss. Diese kann er sehr allgemein oder äusserst spezifisch halten - oder irgendwo dazwischen.
Würde er nur wenige Vorgaben definieren, liesse er entweder den akkreditierten Zertifizierungsorganisationen bei der Definition der Prüfverfahren oder den Gemeinschaften und Stammgemeinschaften beim Aufbau freie Hand. Dies würde dazu führen, dass es signifikante Unterschiede bei der Ausgestaltung des elektronischen Patientendossiers gibt, wenn sich Akteure wie die Zertifizierungsorganisationen oder Gemeinschaften und Stammgemeinschaften nicht zusätzlich koordinieren würden. Schlimmstenfalls wäre die Interoperabilität nicht sichergestellt oder die Datensicherheit von Region zu Region unterschiedlich.
Genau das ist der Grund, weshalb das EPDG überhaupt einen so breiten Konsens geniesst - es wurde vom National- und Ständerat beinahe einstimmig verabschiedet. Um einheitliche Minimalanforderungen an die Interoperabilität sowie Datenschutz und Datensicherheit beim elektronischen Patientendossier sicherzustellen, müssen gewisse Spielregeln schweizweit gelten - ohne aber gleich alles Top-Down vorzugeben. Dazu gehören die Verwendung von Normen, Standards und Integrationsprofilen, ebenso die Vergabe von Zugriffsrechten, semantische und technische Austauschformate, die Verschlüsselung der Daten oder welche minimalen Funktionen Zugangsportale erfüllen müssen.
Wo stehen Sie zur Thematik «Dynamische Technologie versus starre Regulierung»?
Zu wenig Regulierung wäre also kontraproduktiv beim Aufbau des EPDG. Wenn der Bund aber seinen gesetzgeberischen Spielraum zu stark ausnützt, ist er in der Konsequenz unablässig damit beschäftigt, das Recht der technologischen Entwicklung anzupassen und liesse dabei keinen Raum für Innovation in den Versorgungsregionen. Das ist weder zweckmässig - von der Machbarkeit ganz zu schweigen - noch entspricht es dem Geist der schweizerischen Rechtsetzung.
Der Anhörungsentwurf zu den Ausführungsbestimmungen ging uns denn auch etwas gar weit in Richtung Top-Down. So viel Top-Down, dass wirkliche Innovation in diesem Ökosystem keinen Platz gehabt hätte.
Wir sind im Kanton Aargau bereits daran, die Überführung unserer vorhandenen und bewährten E-Health-Dienste in das künftige EPD-Ökosystem zu planen. Das wäre mit diesen Vorgaben definitiv nicht möglich gewesen. Wir sind überzeugt, dass erst die E-Health-Zusatzdienste, welche das EPD erweitern und unterstützen, das EPD für die Leistungserbringer attraktiv machen werden. Dazu gehören zum Beispiel das Zu- und Überweisungsmanagement, die Terminverwaltung, die E-Medikation oder der sichere Informationsaustausch zwischen zwei Akteuren.


Wie ist die Zusammenarbeit und Bereitschaft für Verbesserungsvorschlä­ge seitens der Akteure oder Bund?
Das Bundesamt für Gesundheit BAG pflegt erfreulicherweise eine für ein Rechtssetzungsprojekt ausgesprochen offene Informations­poli­tik und bezieht die betroffenen Akteure aktiv ein. Daher konnten wir unsere Erfahrung in der Umsetzung von E-Health-Anwendungen einbringen und gewisse zentrale Punkte bereinigen, die für uns und für das gesamte E-Health-­Ökosystem in der Schweiz Innovations­killer gewesen wären.
Ist die Regulierung von Stammgemeinschaften tendenziell zu detailliert und zu starr im Hinblick auf die kommende Digitalisierung und adaptierbaren Innovationen? Ist das verlangte Schweizerische System genügend offen für neue Technologien und absehbare Innovationen?
Zuerst ist es wichtig anzumerken, dass der Bund glücklicherweise international anerkannte Normen vorschreibt. Es wird also kein Sonderfall Schweiz geschaffen, sondern es werden auch für die Schweiz neu entwickelte Standards und Anpassungen an bestehenden Standards - was im E-Health Umfeld international üblich ist - wieder der internationalen Standardisierung zugeführt. Erste diesbezügliche Rückmeldungen sind grundsätzlich positiv.
Die Frage, ob Innovation in einem staatlich geregelten Umfeld überhaupt möglich ist, stellt sich meines Erachtens nicht. Innovation ist nicht vorherseh- oder planbar. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob wir im Umfeld des elektronischen Patientendossiers direkt von Innovationen profitieren und sie in unsere regional aufgebaute EPD-Infrastruktur einfliessen lassen können oder ob wir parallele, künstlich getrennte Systeme aufbauen, nutzen und unterhalten müssen.
Falls der Bund seine diesbezüglichen Versprechen einhält, bin ich zuversichtlich, dass wir das Beste aus zwei Welten haben können: schweizweit die gleichen Minimalstandards in Bezug auf Sicherheit und Interoperabilität und trotzdem genug Raum, um regionale und innovative Entwicklungen, wie sie ja im EPDG mit der dezentralen Architektur gefordert sind, zu ermöglichen und sogar zu fördern. Ich bin davon überzeugt, dass die ganze Schweiz von diesen unterschiedlichen Lösungen profitieren wird. Ich vertraue dem BAG grundsätzlich, es ist aber nicht die einzige in die Bereinigung der Vorlage involvierte Behörde
Was macht die unermüdliche Arbeit in einem so wichtigen, generationsübergreifenden Thema interessant und motivierend?
Ich freue mich auf den Moment, wenn sich Gesundheitsfachpersonen fragen, wie sie ihren anspruchsvollen Alltag früher ohne das EPD im Speziellen und E-Health im Allgemeinen bewältigen konnten. Bis dahin haben wir zwar noch einen langen Weg vor uns, aber einen mit disruptivem Innovationspotenzial. Nicht umsonst verglich Nationalrat Ignazio Cassis die Folgen der Einführung des EPD für das Gesundheitswesen mit den Folgen der Eröffnung der NEAT für das Transportwesen.

Nicolai Lütschg

Nicolai Lütschg ist 36 Jahre alt, Polit­ökonom, Geschäftsführer der Stammgemeinschaft E-Health Aargau und damit verantwortlich für die Einführung des elektronischen Patientendossiers im Kanton Aargau. Frühere Hotspots in Lütschgs Laufbahn: die Digitalisierung im Bankenumfeld, die Einführung und Förderung von E-Learning Mitteln an der Universität Zürich, die Digitalisierung des Behördenverkehrs durch nationale E-Government Standards, die standardisierte digitale Erfassung, Analyse und Optimierung von Geschäftsprozessen im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten sowie die Gesamtprojektleitung zur Erarbeitung des Verordnungsrechts zum Bundes­gesetz über das elektronische Patientendossier beim Bundesamt für Gesundheit BAG


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