Arbeitsstrukturen und -beziehungen in Unternehmen werden immer vernetzter. Das geht damit einher, dass immer häufiger Mitarbeitende Personen führen, deren Vorgesetzte sie nicht sind. Dieses sogenannte laterale Führen unterscheidet sich stark vom klassischen Führen.
Denn in der Vergangenheit standen in Betrieben verschiedene Bereiche und Abteilungen oft weitgehend unverknüpft nebeneinander. Jeder Bereich hatte sein klar definiertes Aufgabenfeld – unabhängig davon, ob er nun Marketing oder Vertrieb, Konstruktion oder Produktion, IT oder Controlling hiess. Und auch die Mitarbeiter hatten klar umrissene Aufgaben, die entweder in ihren Stellenbeschreibungen definiert oder ihnen von ihren Vorgesetzten übertragen worden waren.
Heute sieht das oft anders aus. Zumindest in den Unternehmen, die für ihre Kunden komplexe Dienstleistungen erbringen. Oft sind etwa IT-Unternehmen weitgehend netzwerkartig strukturiert und die Bereichsgrenzen sowie Hierarchiestufen spielen in ihrer alltäglichen Arbeit eine immer geringere Rolle. Vor allem deshalb, weil Leistungen zunehmend in bereichs- und oft sogar unternehmensübergreifenden Arbeitsteams erbracht werden.
Vernetzte Strukturen erfordern flexiblen Führungsstil
Mit solchen vernetzten Strukturen stösst ein klassischer Führungsstil an seine Grenzen, der auf disziplinarischer Macht und Weisungsbefugnis beruht, die durch eine bestimmte Position verliehen werden. Stattdessen gewinnt das sogenannte laterale Führen an Bedeutung, das auf Vertrauen und Verständigung beruht und danach strebt, durch das Schaffen eines gemeinsamen Denkrahmens die verschiedenen Interessen der Beteiligten soweit möglich zu verbinden. Diese Art von Führung muss sich, weil die disziplinarische Weisungsbefugnis als Machtquelle entfällt, auf andere Machtquellen stützen – zum Beispiel auf eine hohe persönliche Autorität und Integrität. Oder auf ein ausgewiesenes Expertentum oder auch ein gezieltes Networking, das die eigene informelle Machtbasis stärkt.
Dem klassischen Führungsverständnis zufolge stellt der Begriff der lateralen Führung einen Widerspruch in sich selbst dar. Denn ihm zufolge ist Führung untrennbar mit einer hierarchischen Weisungsbefugnis verbunden. Trotzdem ist laterale Führung eine typische Erfordernis der modernen Arbeitswelt, die durch bereichsübergreifende Kooperationen, Vernetzungen, flache Hierarchien sowie Team- und Projektarbeit gekennzeichnet ist.
Lateral führen bedeutet mehr als nur koordinieren
Laterale Führung wird nicht selten mit koordinieren gleichgesetzt. Also zum Beispiel, wenn in IT-Projekten dem Projektleiter die Aufgabe zugeschrieben wird, neben der Arbeit der Projektmitglieder auch die divergierenden Interessen und Einschätzungen der betroffenen Bereiche zu koordinieren. Doch lateral zu führen, bedeutet mehr als das. Denn Koordination zielt primär auf ein Aufeinanderabstimmen zum Beispiel von Interessen, Aufgaben oder Tätigkeiten ab. Führung hingegen beinhaltet auch, auf Personen oder Organisationen einzuwirken, etwa damit sie in eine gewünschte Richtung handeln. So zum Beispiel, wenn ein Projektleiter möchte, dass bei der Arbeitsplanung auch das Zeitbudget beachtet wird. Oder wenn ein IT-Spezialist möchte, dass die Projektmitglieder bei der Entscheidung für einen Lösungsweg auch die hiermit verbundenen Risiken bedenken.
Das zentrale Ziel von lateraler Führung ist es also, die eigenen sowie die übergeordneten Ziele (zum Beispiel des Unternehmens oder des Projekts) zu erreichen. Ein Weg zur Zielerreichung kann sein, Kompromisse zu schliessen. Häufig ist jedoch auch das Gegenteil der Fall, zum Beispiel dann, wenn das Erreichen der gewünschten Top-Ergebnisse eine klare Entscheidung zwischen zwei oder mehreren möglichen Lösungswegen erfordert.
Um Zustimmung werben statt selbst entscheiden
Dementsprechend ist es durchaus eine Herausforderung, laterale Führung in der Praxis zu leben. Nicht nur, weil die an diesem Prozess beteiligten Personen zum Beispiel aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen und Positionen in der Organisation verschiedene Auffassungen und Interessen haben. Das ist, wenn in Unternehmen weitreichende Entscheidungen anstehen, eigentlich stets der Fall. Der eigentliche Unterschied des lateralen zum klassischen Führen ist, dass niemand existiert, der sagen kann «So machen wir das jetzt – und basta», und auch dafür die Verantwortung übernimmt. Entsprechend langwierig sind beim lateralen Führen oft die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse, da um die Zustimmung oder zumindest Akzeptanz aller Beteiligten geworben werden muss.
Trotzdem gewinnt das Thema laterale Führung an Bedeutung – aufgrund der heutigen Organisation von Unternehmen und weil die in ihnen entworfenen Problemlösungen stets komplexer werden. Einige Beispiele, wann laterale Führung häufig gefragt ist, sind hier genannt:
Verständigung zwischen mehreren Bereichen einer Organisation aus einem konkreten Anlass.
Beispiel: Ein Projektmanager erhält von seinem Vorgesetzten zwar das Mandat, ein Projekt zu starten, er hat aber nur schwache Mittel, um die betroffenen Bereiche an die Leine zu nehmen.
Verständigung in der Wertschöpfungskette.
Beispiel: Ein Bereich muss mit anderen entlang der Prozesskette kooperieren, der Bereichsleiter kann bei Meinungsverschiedenheiten aber nicht auf übergeordnete Instanzen als Schlichter zurückgreifen, etwa aufgrund von Zeitmangel oder fehlender Praxisnähe dieser Instanzen.
Verständigung unter Geschäftspartnern.
Beispiel: Eine Organisation muss sich mit mehreren ebenfalls autonomen Kooperationspartnern darüber verständigen, wer im Rahmen eines Grossprojekts gewisse Leistungen für einen gemeinsamen Kunden erbringt.
Darüber hinaus ist laterale Führung auch dann von hoher Bedeutung, wenn Entscheidungen in Gremien wie Vorständen und Präsidien herbeigeführt werden sollen; und ausserdem in bereichs- und unternehmensübergreifenden Veränderungsprozessen, wie zum Beispiel Fusionen.
Das höchste Ziel ist die Zielerreichung selbst
Da beim lateralen Führen das Erteilen von Anweisungen entfällt, bedarf es anderer, eher informeller Instrumente der Führung. Diese lassen sich in vier Kategorien unterteilen: Denkmodelle öffnen, Kommunikation verbessern, Vertrauen auf- und ausbauen sowie Machtgefüge arrangieren (siehe Info-Box «Werkzeuge des lateralen Führens»). Die vier Steuerungsmechanismen greifen ineinander und lassen sich im Unternehmens- und Führungsalltag schwer trennen. Wichtig ist, dass sich laterale Führungskräfte offen für die Auffassungen und Interessen der anderen halten. Sie lassen zudem in der kollektiven Meinungsbildungsphase offen, welches Entscheiden und Handeln das Beste wäre – à la: «Es könnte so gehen, aber auch anders». Denn ihr Ziel ist es nicht, einen bestimmten Weg durchzusetzen, sondern das übergeordnete Ziel zu erreichen. Und hierfür gibt es meist mehrere Wege.
Die Kompetenz, lateral zu führen, fällt nicht vom Himmel, sie muss entwickelt werden – sowohl bei Experten und Spezialisten, die in ihrem Arbeitsalltag aufgrund ihres Spezialwissens immer wieder vor der Herausforderung stehen, andere Menschen – auch Ranghöhere – von den Vorzügen oder Risiken einer möglichen Lösung zu überzeugen. Als auch bei Führungskräften, die wichtige Entscheidungen im Team treffen möchten, weil sie bei deren Realisierung auf die aktive Unterstützung ihrer Mitarbeiter angewiesen sind.
Laterale Führung setzt aber auch gewisse Persönlichkeitsmerkmale voraus – beispielsweise eine wertschätzende Haltung gegenüber anderen Menschen und die Bereitschaft, das eigene Denken und Verhalten zu hinterfragen. Denn ohne diese Grundhaltungen gelingt es weder, die Denkmodelle anderer Menschen zu öffnen, noch die Kommunikation mit ihnen zu verbessern. Und noch weniger gelingt es, eine von Vertrauen geprägte Beziehung zu ihnen aufbauen und die für das Erreichen der Ziele nötigen Machtgefüge zu arrangieren.
Der Autor
Albrecht Müllerschön ist Inhaber der Müllerschön Managementberatung Starzeln in Deutschland. Der Wirtschaftspsychologe ist Autor mehrerer Fachbücher zu den Themen Personaldiagnostik, -auswahl und -entwicklung.
www.muellerschoen-beratung.de
(Quelle: Müllerschön Managementberatung Starzeln)