Magischer Würfel für smarte Pflege
Quelle: zVg

Magischer Würfel für smarte Pflege


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2015/11

     

Das Forschungsprojekt «Relaxed Care» hat eine Lösung entwickelt, bei der ein Würfel eine Verbindung zwischen älteren Personen und Pflegern oder Angehörigen herstellen soll. Das iHomelab der Hochschule Luzern hat die vollständige Hard- und Software des Würfels entwickelt. Ende September hat die Lösung «Relaxed Care» den Publikumspreis des europäischen AAL Award (Ambient Assisted Living) erhalten, im Mai 2016 soll das Projekt abgeschlossen sein. Im Gespräch mit «Swiss IT Magazine» erklärt der Projektleiter für die Schweiz, Martin Biallas, wie das Projekt abläuft, wie das System funktioniert und welche Vermarktungsideen auf dem Plan stehen.

Swiss IT Magazine: Herr Biallas, warum hat Ihrer Meinung nach die Lösung
«Relaxed Care» den Publikumspreis beim AAL Award gewonnen?
Martin Biallas:
Man kann eine Jury beeindrucken, indem man darlegt, dass eine Lösung so einfach nachvollziehbar ist, dass man keine dicke Bedienungsanleitung braucht. Denn das spricht dafür, dass man aus einem Prototyp sehr bald einen Serientyp ableiten könnte.


Zur Lösung «Relaxed Care» gehört ein Würfel, von dem je einer bei Angehörigen oder Pflegenden und einer bei einer hilfsbedürftigen Person steht. Dieser Würfel soll anzeigen, ob es der hilfsbedürftigen Person gut geht, ob sie Gesellschaft möchte, ob ihre Verhaltensmuster abweichen, indem er die Farbe wechselt. Wie gelingt das?
Zum System «Relaxed Care» gehören neben den Würfeln auch Sensoren, die in der Wohnung von Senioren installiert werden. Dabei handelt es sich um einfache, drahtlose Bewegungsmelder und Schliesskontakte für Türen oder Fenster. Diese senden Informationen an den Würfel, der bei Pfleger oder Angehörigen steht. Das System wertet die Informationen aus – zum Beispiel, wie oft bei der älteren Person Besuch war. Sollten über den Zeitraum einer Woche die Anzahl der Besuche oder die Anzahl der Aktivitäten ausser Haus drastisch abnehmen, wird der Würfel die Farbe ändern, um die Angehörigen oder Pflegenden zu warnen.

Und das System ist intelligent und lernt dazu?
Genau, dabei geht es um Behavioral Pattern Recognition. Sprich, was passiert in aller Regelmässigkeit in der Wohnung. Zum Beispiel gehen die meisten Leute morgens zuerst ins Bad und anschliessend in die Küche. Dann kann man die einfache Regeln einführen: Wenn das noch nicht passiert ist – sprich noch niemand aus dem Bett gekommen ist und Küche und Bad noch nicht aufgesucht hat, aber es ist schon 11 Uhr – dann kann man davon ausgehen: Vielleicht ist hier irgendetwas nicht in Ordnung.

Diese Regeln sind schon vorprogrammiert?
Ja, gewisse Grundannahmen sind schon im System, aber das System stellt sich mit der Zeit auch auf die Gewohnheiten jeder Personen individuell ein.


Und ist es so gedacht, dass ein Fachmann das System installiert?
Das Ganze ist relativ einfach gehalten. Die Installation wird ungefähr den Schwierigkeitsgrad einer Mobiltelefon-Inbetriebnahme haben. Daher ist die Idee, dass die Angehörigen dieses System einrichten, falls eine ältere Person sich im Umgang mit Technik nicht wohlfühlt.

Wie stellen Sie sicher, dass «Relaxed Care» nicht zum Überwachungssystem wird?
Das ist natürlich ein grosses Risiko – durch solch ein System erhält man mehr Informationen als ohne. Es geht aber nicht darum, aufzuzeichnen, um wie viel Uhr eine Person aufgestanden ist und in welches Zimmer sie gegangen ist. Diese Informationen liegen dem System zwar vor. Aber es ist von der Systemkonstruktion her nicht möglich, dass Angehörige an diese Daten herankommen. Sie erhalten nur eine generelle Übersicht, die sich über Stunden langsam ändert – aber sie haben keinen Einblick in einzelne Ereignisse.
Der zweite Punkt ist die Transparenz. Die Informationen, die Angehörige oder Pflegende sehen, können die älteren Personen ja ebenfalls einsehen.
Und drittens haben wir uns bewusst für ganz triviale Sensoren entschieden. Die Bewegungsmelder können Sie, wenn Sie wirklich das Gefühl haben, überwacht zu werden, mit einfachen Pappdeckeln abdecken. Wir haben das System bewusst nicht so entwickelt, dass es unüberwindbar ist und dass man es gar nicht mehr überlisten kann. Und wenn die Alternative für die Person wäre, in ein betreutes Wohnen zu gehen oder in ein Wohnheim, sieht es da ähnlich aus: Dort sind ja auch Bewegungsmelder installiert.

Über den Würfel können auch direkte Botschaften wie «Ich denke an dich» ausgetauscht werden – wozu soll das im Pflegebereich gut sein?
Bei unserem System geht es – anders als bei Notrufsystemen – tatsächlich auch darum, die Kommunikation durch ein einfach zu bedienendes Medium zu erleichtern. Wie ein Anrufbeantworter, der darauf wartet, dass man ihn abspielt, liegt dann eine Nachricht vor, die nicht zeitkritisch ist. Für eine Nachricht wie «Ich denke an dich» können Nutzer ein linsenförmiges Objekt mit dem Durchmesser einer 5-Franken-Münze auf den Deckel des Würfels legen. Als Bestätigung, dass die Nachricht versendet wurde, ertönt ein optisches und akustisches Signal. Ich glaube, die wenigsten Leute würden heute ihre Eltern anrufen, um zu sagen: Ich habe gerade an dich gedacht. Das ist aber eigentlich eine wichtige Nachricht, gerade wenn man weiter weg voneinander wohnt und sich nicht täglich sieht.


Kann man über das System auch bei Notfällen einen Alarm auslösen?
Wir differenzieren uns klar von klassischen Notfallsystemen. Die sind natürlich auch wichtig: Damit sofort ein Alarm ausgelöst wird, wenn jemand in der Wohnung fällt oder wenn jemand einen Herzinfarkt hat. Wir sind aber einen Schritt zurückgegangen und haben uns gefragt: Was ist denn, wenn es noch gar nicht so weit gekommen ist. Es ist ja nicht so, dass Leute entweder sofort Hilfe brauchen und sonst gar nicht. Noch nicht alle älteren Leute sind vertraut mit dem Smartphone und Chat-Applikationen. Diesen Leuten, die kein Smartphone haben, steht es gar nicht offen, unverbindliche, weniger wichtige Nachrichten, zum Beispiel «Ruf mich an, wenn Du Zeit hast» über Whats App zu platzieren. In diese Bresche sind wir gesprungen.
Um den Würfel als Kommunikationsmittel zu nutzen, braucht es aber keine Bewegungsmelder…
Genau, die Idee ist tatsächlich, die Würfel nicht nur als Pflege-Assistenzsystem einzuführen, sondern auch als Kommunikationselement. Deshalb haben wir auch Designer im Projektteam, die sich Gedanken machen, wie man den Würfel designen könnte, damit er zum Lifestyle-Produkt wird. So kann man den Würfel schon ein paar Jahre zur Kommunikation nutzen und erst später die Sensoren dazukaufen, wenn sich die Lebensumstände ändern. Dann hat das System nicht mehr diesen Beigeschmack von Krankenhilfe.


Was sind Ihre konkreten Pläne für diese zweigleisige Vermarktung?
Einerseits wollen wir Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz ansprechen, damit sie das Produkt mit in ihr Programm aufnehmen. Und andererseits wollen wir wirklich allein die Kommunikationskomponente des Würfels nutzen, um den Würfel als Lifestyle-Produkt auf den Markt zu bringen. Ab dem Projektende im Mai 2016 werden die mittelständischen Projektpartner die Markteinführung angehen.

Bei der Entwicklung helfen ja verschiedene Projektpartner aus der Schweiz, Österreich, Slowenien und Spanien mit. Wie läuft die Zusammenarbeit ab?
Wir treffen uns zweimal pro Jahr persönlich für Absprachen. Und wöchentlich haben wir Telefonkonferenzen. Die Herausforderung ist, diese Zusammenarbeit auf europäischer Ebene so zu lenken, dass man effizient zusammenarbeiten kann. Da geht es bei einer Telefonkonferenz um die einfachsten Dinge, wie wenn eine Person spricht und zwei andere gleichzeitig antworten. Es ist gar nicht so einfach, wie wenn man wirklich an einem Ort wäre und an einem Tisch sitzt. Dafür bekommt man aber Eindrücke von anderen Leuten und auch anderen Kulturen mit, das macht Spass.


Sind Sie bisher auf grosse Hürden gestossen?
Wir haben den Input von Endusern in jeder Phase des Projekts berücksichtigt, das ist nicht selten eine Herausforderung. Ganz am Anfang des Projekts haben wir Enduser gefragt, welcher Bedarf besteht, daraus haben wir Anforderungen abgeleitet und einen ersten Prototyp erstellt. Den haben wir wiederum von Endusern – im Labor – testen lassen, bevor wir weitere Modifikationen vorgenommen haben. Und jetzt haben wir einen zweiten Prototyp, den wir in der Schweiz und in Österreich im Feld, also bei potentiellen Endusern zu Hause, installieren und testen werden. Damit haben wir eine gute Basis für ein späteres Produkt, zu dem übrigens auch eine App gehört, die die Würfelfarbe anzeigt und die Kommunikationsfunktionen zu Verfügung stellt.

Mehr Informationen

Das Projektkonsortium besteht aus dem Austrian Institute of Technology als Projektkoordinator, dem iHomelab der Hochschule Luzern, Eichenbergerszenografie (CH), Soultank (CH), dem Schweizerischen Roten Kreuz Luzern, 50 Plus (AT), New Design University (AT), Senlab (SLO) und Ibernex (E). www.relaxedcare.eu
(aks)


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