Seit 85 Jahren verkauft die Schweizer Firma Just Kosmetikprodukte direkt an Endkunden. Bis vor kurzem gestaltete sich die Situation so, dass die rund 200 Berater ihre zwei- bis dreitausend Kunden bewaffnet mit Stift und Block mit drei Durchschlägen besuchten. Informationen zu ihnen sammelten sie auf Karteikarten. Um zu bestimmen, welche Kunden sie am nächsten Tag besuchen, gingen sie diese Karteikarten durch, zum Beispiel nach Faktoren wie: «Hat in den letzten sechs Monaten eine Gesichtscreme gekauft». Das muss doch einfacher gehen, befanden im letzten Jahr allerdings Stimmen im Unternehmen. Und ausserdem wirkte das Auftreten mit Block und Stift nach aussen hin auch nicht so modern, wie die Traditionsfirma das gerne gehabt hätte. Die Lösung der IT-Abteilung: Eine App fürs Tablet.
Die Hauptziele dieser App waren von Beginn an klar definiert: Über sie sollten Berater künftig Bestellungen abwickeln und Informationen zu Kunden erhalten können. Dadurch sollten Berater mehr Zeit beim Kunden verbringen – und weniger mit den Karteikarten. Plus: Mit den Tablets sollte ein zeitgemässes Auftreten nach aussen hin sichergestellt sein.
Ein erster Schritt war, das Projekt bei der Geschäftsleitung im Hinblick auf das Budget durchzubringen. Hierfür errechnete IT-Leiter Michael Häfele mit seinem Team einen etwaigen Return of Investment. Sie schätzten: Mit einer App, die Filterfunktionen bietet, kann ein Berater im Schnitt eine Stunde Zeit einsparen, um Informationen zu Kunden herauszusuchen und somit zu planen, welche Kunden er besuchen sollte, um möglichst viel Umsatz zu generieren. Wenn etwa die Hälfte der Mitarbeiter wenigstens eine halbe Stunde davon tatsächlich für zwei, drei weitere Kundenbesuche nutzen, dann sollte sich das Projekt in zwei, drei Jahren rechnen. Das Argument kam bei der Geschäftsleitung an und der dringliche Wunsch der Verkaufsabteilung, modern am Markt zu erscheinen, tat ihr übriges. Das App-Projekt konnte starten.
Übergreifendes Projektteam
Um intern über genügend Kapazität zu verfügen, stellte Just eine zusätzliche Person in einem 60-Prozent-Pensum ein, die vor allem im Hardware-Bereich unterstützend tätig sein sollte. Applikationstechnisch übernahm die Projektleitung IT-Mitarbeiter Hans Metzler, der seit 15 Jahren im Unternehmen ist. Und zudem kamen in die Projektgruppe, die Entscheidungen rund um die neue App traf, Aussendienstmitarbeiter und Verkaufsleiter. Die Entscheidung für solch eine bereichs- und hierarchieübergreifende Lösung stellte sich rückblickend als überaus richtig dar, ist Metzler überzeugt. «Das war der Haupterfolgsfaktor», erklärt der 54-Jährige. «Uns ist es so gelungen, die technische Prozess-Sicht zu verlassen und Dinge aus der Beraterpraxis zu berücksichtigen, die uns aus der ERP-Welt fremd sind.» So wurde im Projekt-Team auch schnell klar, welche zentralen Anforderungen die App bieten musste, um praxistauglich zu sein: einfach, offlinefähig und in kurzer Zeit lernbar. «Wir wollten die Lösung ja für den Verkauf bauen und nicht für IT-Spezialisten», erklärt IT-Leiter Michael Häfele, dem die Geschäftsleitung im Projekt freie Hand liess und vertraute. «Und die Berater sind in erster Linie Berater und keine IT-Cracks.»
Bei der Suche nach einem App-Entwickler war es denn auch ein wichtiges Kriterium, jemanden zu finden, der diese Grundbedürfnisse versteht. Der Rücksicht darauf nimmt, wie einfach die App sein muss, damit auch Berater damit zurechtkommen, die mit Technik nichts am Hut haben. Just schaute sich zwei mögliche Partner an, man entschied sich einstimmig für den Mobile-App-Spezialisten Innotix, der denn auch von der Konzeption bis zum Go-Live und darüber hinaus dabei war und ist. IT-Leiter Häfele erklärt: «Innotix ist für uns als KMU ein Partner auf Augenhöhe. Wenn man mit riesigen Partnern zusammenarbeitet, ist das oft nicht der Fall.» Bei Innotix aber bekam die Kosmetikfirma eine persönliche Ansprechpartnerin – Projekt-Managerin Cristina Torresani – und lernte auch das Team gleich kennen. Was ebenfalls gefiel: Innotix informierte sich genauestens über die Arbeitsweise seiner künftigen App-Anwender. So luden Mitarbeiter des Innotix-Teams inkognito Just-Berater zu sich nach Hause ein, liessen sich über Kosmetikprodukte beraten, stellten Fragen wie «Kann ich das nicht schneller haben?» oder «Warum muss ich Porto bezahlen?». «Die Berater live zu erleben in einer Echtsituation, war für uns sehr hilfreich», erklärt Lukas Haldemann, Gründer und CEO von Innotix. Den Input liess die Agentur bei ersten Mock-ups einfliessen. Sie nahmen auch echte Artikelnummern auf, und echte Kundendaten. «Jeder hat sich wiedergefunden, es gab keinerlei Pseudoartikel», erzählt Just-IT-Leiter Häfele. Der andere App-Entwickler, der ebenfalls im Rennen um den Just-Auftrag war, wäre an die Entwicklung sehr technisch herangegangen und hatte von Beginn an klar gemacht, was alles nicht möglich sein würde, statt auf die Bedürfnisse des Unternehmens einzugehen. Just fühlte sich in ihrem Bedürfnis nach einer auf sie zugeschnittenen App nicht verstanden. «Für uns als Firma ist diese App auch ein Meilenstein.»
Ein Feld für den Hund
Als erster Schritt in Richtung Umsetzung wurde entschieden, auf welches Betriebssystem man setzen will. Die Entscheidung übernahmen die künftigen Anwender. App-Entwickler Innotix stellte Mock-ups für eine Apple- sowie für eine Android-Version bereit, noch ohne Backend-Anbindung. Diese stellte Haldemann und sein Team auf verschiedenen Geräten – dem iPad, dem iPad Mini und verschiedenen Android-Tablets – in einem Raum zur Verfügung und liessen die Berater ausprobieren. «Es war noch nichts programmiert und keine Zeile Code geschrieben, aber das Front-end war schon fast fertig», so Haldemann. «So konnten die Berater ein Gespür für die Anwendung bekommen.» Der Fall war schnell klar: Dreiviertel wollten die iOS-Variante, der Aufbau der Menüs erschien ihnen intuitiver. Dabei kam aber sogleich ein anderes Feedback vom Aussendienst: «Hier fehlt ein Feld». Und zwar eines, wo der Name des Hundes einer Kundin Platz hat. «Das konnte ich vorher auf meiner Karteikarte vermerken», hiess es. Diese Anforderung ist Lukas Haldemann im Gedächtnis geblieben: «Das sind aus IT-Sicht Details, aber für die Praxis und die Akzeptanz war diese Möglichkeit ganz entscheidend.»
Es gehörte zu den obersten Prioritäten des App-Projektes der Firma Just, die künftigen Anwender von der App zu begeistern. Klar, bei vielen stiess die Idee auf offene Ohren, sollte sie ihre Arbeitsabläufe doch vereinfachen und beschleunigen. Aber unter den schweizweit verteilten Beratern finden sich auch solche, die schon jahrzehntelang dabei sind und sich bisher Internet und Handys gegenüber auch privat verschlossen haben. «Ich verstehe das schon, wenn jemand kurz vor der Pensionierung so ein Tablet bekommt und sich geniert zu fragen ‹Wo schalte ich das Ding ein? Und erkläre mir mal, warum, nur weil ich da klicke, ein Paket rausgeht?›», erklärt Projektleiter Hans Metzler. Umso höher priorisierte Just die frühzeitige und regelmässige Kommunikation der neuen App sowie umfassende Schulungen für die eigentlichen Anwender. Denn wie Innotix-Chef Lukas Haldemann weiss: «Man hat beim Anwender nur eine einzige Chance.» Das sei der grösste Unterschied zu Desktop-Projekten, wo es gut und gerne noch zwei, drei Updates geben darf. Aber wenn eine App nicht gleich auf offene Ohren stösst, dann habe man es sehr schwer, dass sie überhaupt je akzeptiert würde.
Sechs Monate im Test
Entscheidungen wurden im App-Projekt denn auch immer wieder ins «App-Gremium», wo ja auch Leute aus dem Verkauf sassen, gebracht und regelmässig kommuniziert, was wie läuft. Auch für das Testing liess man sich sehr viel Zeit, damit möglichst viele Parteien ihre Anmerkungen abgeben konnten und man Zeit hatte, Fehler zu entdecken. Tatsächlich brauchte das Projekt drei Monate Konzeption, drei Monate Umsetzung und ein halbes Jahr Testing. Aus jedem Bereich testete jemand jede Version mit, berichtete, wenn etwas nicht optimal lief. «Am Schluss war es eigentlich nur noch ein Auf-den-Knopf-drücken», so Projektleiter Metzler – die grossen Überraschungen blieben aus. «Das ist ein grosser Unterschied zu klassischen IT-Projekten, wo irgendjemand etwas baut und die anderen es dann benutzen müssen.» Und das trotz Herausforderungen wie der Anbindung an die interne SAP-Plattform, die zeitgleich in einem zweiten Projekt nach 15 Jahren auf eine neue Version aktualisiert wurde.
Um die 200 Mitarbeiter über die App zu informieren und sie später dafür zu schulen, banden Hans Metzler und Michael Häfele auch den Verkaufsinnendienst stark mit ein. Diese Mitarbeiter kennen ihre Aussendienstkollegen am besten und verstehen es teils besser, auch die skeptischsten unter ihnen abzuholen, ihnen geduldig und doch konsequent zu erklären, wie die App funktioniert und wie sie ihre Arbeit vereinfachen wird, erklären die Informatiker. So tourte man gemeinsam durch die Schweiz, besuchte Verkaufssitzungen und führte nach dem Go-Live zwei bis drei Schulungen durch. Bei Problemen mit der App wenden sich die Anwender denn auch heute über Teamviewer an den Innendienst, der die App fast so gut kennt wie die IT-Abteilung selbst. «Mit allen Problemanfragen aller 200 Leute in drei Sprachen wären wir in der IT-Abteilung überfordert», erklärt Michael Häfele.
Bis Ende 2015 soll auch der letzte Berater auf die App umgestiegen sein. Den Startschuss bildete im August ein Firmenevent in Luzern, wo auch alle Aussendienstmitarbeiter ein fertig eingerichtetes iPad erhielten. Marcel Jüstrich, Leiter von Just, inszenierte den Go-Live der App, indem er bei seiner Rede über das Thema Mobile Apps durch das Folien-Display eines drei Meter hohen Displays trat, das er zuvor hatte schreinern lassen. Das Ergebnis: Tosender Applaus der Mitarbeiter. Auch von denjenigen, die zuvor kritisch hinterfragt hatten, ob der Papierblock nicht hätte bleiben können.
(aks)