Die Schweiz ist erfolgreich. Unter anderem auch darum, weil wir zwar nicht immer am schnellsten, aber wenn einmal, dann am konsequentesten auf veränderte Umstände reagieren. Kaum ein Land hat beispielsweise die Prozessorientierung bis in tiefere Ebenen hinunter umgesetzt. Selbst Kleinfirmen mit 20 Mitarbeitenden haben bei uns heute ein strukturiertes Qualitätsmanagement installiert.
Manchmal – und je länger der Wohlstand andauert, umso öfter – versetzen wir Schweizer uns aber leider auch mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Konsequenz selber in Panik: Wir verlieren den Anschluss! Asien ist viel schneller und einsatzbereiter als wir. Die produzieren x Millionen Ingenieure pro Jahr – und Innovation ist doch unser Erfolgsrezept!
MINT-Panik entgegen der Datenlage
Und darum spriessen denn auch in der gewissenhaften Schweiz seit einigen Jahren MINT-Initiativen aus dem Boden, wie die Pilze nach diesem verregneten Sommer. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (eben MINT) sind an unseren Schulen verkümmert, so der breite Konsens, in den Politiker und Wirtschaftsfunktionäre einstimmen. Wir müssten das formale Denken in unseren Lehrplänen aufrüsten, um nicht von den Chinesen verdrängt zu werden.
Was für ein Blödsinn! Erstens belegen Vergleichsstudien wie Pisa, dass die MINT-Leistungen der Schweizer Schüler bereits heute zu den besten weltweit gehören. Wenn es einen Nachholbedarf gibt, dann im Sprachbereich. Zweitens existiert kein Zusammenhang zwischen guten MINT-Leistungen der Schüler und dem wirtschaftlichen Erfolg eines Landes. Langfristige Vergleiche zeigen vielmehr, dass sich Länder mit durchschnittlichen MINT-Schulleistungen – zu denen seit jeher die USA zählen – tendenziell am besten entwickeln.
Technik ist leicht kopierbar – Kultur hingegen nicht
Das ist eigentlich auch nicht weiter verwunderlich. Schliesslich warnt jedes Manager-Handbuch eindringlich davor, Produktinnovationen in die Verantwortung von Ingenieuren zu geben. Denn das führt zu technischen Wunderwerken, die leider niemand kauft. Erfolgreiche Produkte beruhen vielmehr auf Marktverständnis und Menschenkenntnis.
Kommt dazu, dass ein kleines Land den Wettbewerb nicht in Gebieten suchen sollte, die per Definition international und damit einfach kopierbar sind, wie die Technik und mit ihr auch die MINT-Ausbildung. Viel schwieriger ist
es hingegen, eine kreative und innovative Kultur nachzuahmen.
Nicht mehr, sondern frei denkende Ingenieure
Und genau dafür haben wir mit unserem freiheitlichen System den bis auf absehbare Zeit uneinholbaren Vorteil gegenüber China und all den anderen, meist autoritär bis diktatorisch organisierten MINT-Champions. Um mit unseren Produkten und Dienstleistungen an der Spitze der Wertschöpfungsketten zu bleiben, brauchen wir nicht mehr Ingenieure und Wissenschaftler, sondern solche, die über ihren Tellerrand hinaus denken und multikulturell kommunizieren können. Solche also, die neben der soliden MINT-Grundbildung auch ein breites und inspirierendes geisteswissenschaftliches Wissen und Denken mitbekommen haben. Bleibt zu hoffen, dass die aktuelle MINT-Panik nicht dazu führt, dass wir diese Erfolgsgrundlage unseres Bildungssystems mit gutschweizerischer Konsequenz platt machen.