Ohne App geht nix mehr. Ob Software-Entwickler, Radiohändler, Schraubenhersteller, Garagist, Fernsehsender oder Coiffeur: Alle basteln sie Apps für ihre Kunden, den Aussendienst, das Back Office, zum Spielen, Ferien eingeben, Warenkataloge durchforsten, Produkte «entdecken» oder um den Lichtschalter zu drücken. Der durchschnittliche Smartphone-User soll rund 30 Miniapplikationen auf seinem treuesten Begleiter mit sich tragen. iPhone und Konsorten übernehmen inzwischen dermassen viele Alltagsaufgaben, dass Einige Amputationsgefühle bekommen, wenn sie ihre technische Erweiterung nicht bei sich haben. Es naht die Zeit, in der man ein super-intelligentes Phone braucht, um das Smartphone zu bedienen. Oder wird das eine Uhr sein? Eine Brille? Oder die Unterhose?
24 Stunden sind die Grenze
Ich bin mir sicher, dass die App-Hysterie eher früher als später zur Anekdote wird. Erstens ist die unendliche Exponentialkurve ein Hirngespinst von Rai Kurzweil. Es gibt sie nicht wirklich. Jedes Wach-stumssystem stösst irgendwann an eine natürliche Ressourcengrenze und bricht dann in sich zusammen. Von dieser Regel werden die Apps genauso wenig eine Ausnahme machen wie Facebook. Schliesslich hat ein Tag auch im Cyberspace nur 24 Stunden und jede neue App wird schon bald nur noch auf Kosten einer alten einen Anteil davon abzwacken können.
Zweitens zeigt meine in den letzten Monaten zur Manie gewordene persönliche Feldforschung in Sachen App-Gebrauch bereits heute klar nach Süden. Alle von mir Ausgehorchten haben sich nach dem ersten Enthusiasmus schnell auf wenige Apps konzentriert. News, Wetter, Networking, Fahrplan, Karten sowie ab und an eine App für die aktuelle Feriendestination. Alle anderen in den ersten Wochen der Smartphone-Begeisterung heruntergeladenen Progrämmchen füllen nur noch den Screen.
Was alle haben ist nicht cool
Die Begeisterung für neue, coole Apps leidet nicht zuletzt auch darunter, dass per Social Media alles, was man selber entdeckt zu haben geglaubt hat, schon bald im Dutzend hereinschwappt. Mit einer App holt man heute vielleicht noch die Grosseltern hinter dem Ofen hervor. Wenn diese nicht der primäre Zielmarkt sind, sollte man sich ein wenig mehr einfallen lassen.
Natürlich werden die Apps nicht einfach verschwinden. Das Prinzip hat seine unbestrittenen Qualitäten. Die konsequente Beschränkung auf eine einzelne Aufgabe zeigt dem Anwender beispielsweise schonungslos auf, wie unbrauchbar die eierlegenden Business-Software-Wollmilchsäue bisher aufgebaut sind. Endlich kommt Druck auf die Hersteller und die Verantwortlichen in den Unternehmen, ihren Anwendern nicht nur prozessoptimierte, sondern im Alltag auch brauchbare Software-Dienste zu bieten. Ansonsten riskieren sie nämlich ganz einfach, dass ihre Mitarbeiter auf die viel nutzerfreundlichen Alternativen im Consumer-App-Markt ausweichen und dadurch sämtliche Sicherheitsdispositive aus den Angeln heben.
Bald kommt das Integralapfel-Geschrei
Verstummen werden aber – zumindest vorübergehend – die erregten Geschäftsleitungsmitglieder und Marketing-Gischpel, die mit forderndem Unterton beklagen: «Wir haben immer noch keine App!» – und man wird wieder sachlich Nutzen und Aufwand diskutieren können. Und fast sicher wird das Pendel wieder zurückschlagen und ein Steve Jobs 2.0 wird die Anwender mit einer integrierten Plattform beglücken, auf der all die nützlichen Helferlein sinnvoll verknüpft und darum viel nutzerfreundlicher als im wuchernden App-Chaos sind. Aber spätestens dann werden – leider, leider – auch die Gischpel wieder auf den Plan treten, um aufgeregt und bar jeder inhaltlichen Substanz zu monieren: «Was? Wir haben immer noch keinen Integralapfel?» Sie scheinen sich auf wundersame Weise dem zyklischen Zusammenbruchgesetz entziehen zu können.