Die reinen Entwickler verschwinden
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/08
Vor wenigen Jahren wurden reihenweise Ausbildungs- und Umstiegsprogramme aus dem Boden gestampft, um dem befürchteten Informatikermangel vorzubeugen. Noch im Jahr 2000 ging man in der Schweiz von einem Manko von 20’000 Informatikern aus. In den letzten Monaten hat sich die Situation grundlegend verändert. Einige Brancheninsider vertreten die provokative Meinung, dass auf Dauer bis zu 50 Prozent der heutigen Schweizer Informatiker überflüssig werden. Offshoring und Automatisierung drücken auf den Personalbedarf. Die Massenentlassungen bei den Schweizer Grossbanken aber beispielsweise auch bei Swisscom IT Services sprechen Bände. Welche Fähigkeiten aber muss ein Softwareentwickler heute besitzen, um auch längerfristig gute Arbeitsmarktkarten in den Händen zu haben? InfoWeek hat sich bei Schweizer Softwareherstellern umgehört.
Stefan Essi Fischer, CEO der Thalwiler 1eEurope, sieht bei den meisten Stellenbewerbern ein eklatantes Business-Know-how-Defizit kombiniert mit einer weitverbreiteten grundlegenden Saturiertheit der Schweizer. Vor allem Schulabgänger seien zu sehr auf die Technik fokussiert. «Letzthin kam ein Fachhochschulabgänger, der klar zum Ausdruck brachte, dass er nur mit neuesten .Net-Technologien arbeiten wolle. Bei unseren Kunden im Einsatz stehende, geringfügig ältere Techniken interessierten ihn grundsätzlich nicht», illustriert
Fischer seine Analyse. Das Problem sei, dass die Leute nicht den Projekterfolg an sich als Herausforderung ansehen, sondern auf die Bewältigung technischer Problemstellungen mit neuester Technologie fixiert seien, so Fischer. Gerade im technischen Bereich hätten Schweizer gegenüber der Off- und Nearshore-Konkurrenz in Indien und den ehemaligen Ostblockländern aber grundlegende Nachteile. In diesen Ländern sei die Selektion wesentlich härter. Nur das intelligenteste und innovativste Prozent könne überhaupt eine solche Ausbildung machen. Inder seien darum logischerweise ihrem Schweizer-Gegenpart intellektuell häufig überlegen, konstatiert Fischer. Die Schweizer müssten darum vor allem in den Bereichen zu punkten suchen, in denen sie ihre regionalen Vorteile ausspielen können, und das ist, laut Fischer, das Verständnis für hiesige Businessprozesse und -Gepflogenheiten.
Auch für Ronnie Brunner, Head of Corporate Developement beim Zürcher Internetspezialisten Netcetera, ist klar, dass der eigentliche Programmiereranteil in der Schweiz zurückgehen wird. Der schon länger andauernde Trend hin zu mehr Integrationsaufgaben und Businessnähe werde durch die Offshore-Konkurrenz in letzter Zeit verstärkt, so Brunner. Für Netcetera, die Auftragssoftware im High-end-Bereich herstellt, heisst dies allerdings nicht, dass eine technische Ausbildung an Bedeutung verliere. Im Gegenteil, so Brunner, die heutigen Anforderungen verlangen nach Informatikern, die ein tiefgehendes Architekturverständnis besitzen. Er favorisiert darum aus seiner Warte als Ausbildungsweg ein Hochschulstudium. Auf der technischen Grundlage könne dann das Business-Wissen «on the Job» aufgebaut werden. Ein
Mischen der beiden Hauptpfeiler Technik und Business schon während der Ausbildung sei eher problematisch, wie das Beispiel der Wirtschaftsinformatiker zeige. Man sei dann in einem gewissen Sinne weder Fisch noch Vogel, präzisiert Brunner seine Vorbehalte.
Ob eine Förderung der Lehre als Applikationsentwickler auf Dauer Sinn macht, ist für Brunner fraglich. Netcetera bildet zur Zeit vier Lehrlinge aus, und für diese habe man auch Arbeit, betont Brunner. Auf diesem Ausbildungsweg komme jedoch gerade der theoretische Unterbau eher zu kurz, der für die heutige beratungsintensivere Projektarbeit wichtig ist. Denn auch für Brunner ist klar: Die Antwort auf die Billiglohn-Konkurrenz heisst lokales Business-Know-how gepaart mit starken Engineering-Fähigkeiten.
Genau dieser Förderung der Informatiklehre nimmt sich die Genossenschaft I-CH an (siehe begleitender Artikel). Ziel dieser Vereinigung aller massgeblichen Interessenvertretungen der IT ist eine Zahl von 3000 bis 3500 Lehrverträgen pro Jahr. Zudem ist man daran, einen Modulbaukasten für die Grund- und Weiterbildung zu erarbeiten, mit dem unter anderem eine Verschiebung von der traditionellen Fächerorientierung hin zu einer Orientierung an Handlungskompetenzen erreicht werden soll. Auch bei I-CH ist man sich bewusst, dass sich die Anforderungen ändern. Das Programmieren verliert an Bedeutung, so Co-Geschäftsleiter René Keller, während das Erarbeiten von fehlerfreien Spezifikationen wichtiger werde. Zudem sei in einem Offshore-Umfeld ein perfektes Business-Englisch Voraussetzung. Die nötige Teamfähigkeit im Projektbereich versucht I-CH durch eine Verschiebung des Ausbildungsschwergewichts weg vom reinen Fachwissen hin zur Handlungskompetenz im Berufsalltag zu vermitteln. Damit die Informatikausbildung auch in Zukunft den sich schnell ändernden Anforderungen der ICT-Wirtschaft nachkommen kann, ist laut Keller eine vertiefte Kooperation zwischen öffentlichen Ausbildungsstätten und der Wirtschaft nötig. Wo diese Zusammenarbeit gelinge, sei der Erfolg garantiert, so Keller. Die Frage ob heute angesichts des Trends zur Automatisierung und zum Offshoring in den Informatikerlehren nicht eher zuviel reine Applikationsentwickler ausgebildet werden, gibt Keller eine ausweichende Antwort. Der Bedarf sei primär von der Wirtschaftslage abhängig, und die ist derzeit schwer einzuschätzen.
Edwin Bütikofer, Leiter Forschung und Entwicklung des ERP-Spezialisten Simultan, sieht aus der Sicht seines Unternehmens keine Abnahme des Techniker-Bedarfs. Für Simultan ist entscheidend, dass sich die Standardsoftware-Herstellung in Richtung Industrialisierung verändert. Damit gewinnt der Release-Bau-Prozess auf Kosten des reinen Programmierens an Bedeutung. Für die dafür notwendigen Automaten und Verwaltungssysteme braucht es die Techniker, die beim Codieren freigesetzt werden. Bütikofer sieht aber wie seine Kollegen aus dem Projektgeschäft ein verstärktes Bedürfnis nach Technikern, die nicht nur ein Teilgebiet beherrschen, sondern eine Gesamtlösung vom Datenbankdesign bis zum Reporting für das Management beurteilen können. Aus seiner Erfahrung bringen Schweizer Lehr- und Fachhochschulabsolventen aus ihrer Ausbildung dafür das nötige Rüstzeug mit. In den Unternehmen lernen sie dann die Praxis.
Als Fazit lässt sich aus den obigen Aussagen eine Pflicht zur Offenheit und Vielseitigkeit extrahieren. Der Bedarf an Entwicklern wird demnach in der Schweiz in Zukunft eher ab- als zunehmen. Wer sich in diesem enger werdenden Arbeitsmarkt gute Chancen ausrechnen will, tut zum einen gut daran, sicherzustellen, dass er über ein starkes technisches Fundament verfügt. Zum anderen erhöht eine darauf aufbauende Weiterbildung in Richtung Business-Verständnis und Beraterfähigkeiten die Möglichkeiten. Aber auch die Offenheit, statt einer technischen Herausforderung auch die erfolgreiche Meisterung eines technologisch vielleicht alltäglichen Projekts als Motivation zu erkennen, gehört zu den kommenden Fähigkeiten. Überhaupt scheinen von den häufig als introvertiert angesehenen Codecracks künftig auch einige soziale Fähigkeiten verlangt zu werden.