Editorial

Das Me-Too-Zeitalter steht in voller Blüte

Warum nichts Frisches mehr auf den Markt kommt.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2003/22

     

Letzthin durfte ich in einem Online-Forum einen wunderbar bösartigen Beitrag geniessen. Es ging darum, dass die Musikindustrie derzeit und auch in nächster, mittlerer und ferner Zukunft vor allem mit Cover-Versionen und anderweitig abgekupfertem Inhalt ihr Geschäft zu machen sucht und dabei natürlicherweise scheitert - das Portemonnaie der Entertainment-Tycoons wird nicht zuletzt deswegen immer dünner, weil kaum wirklich Frisches auf den Markt kommt.



Der IT-Industrie geht es nicht anders. Ein Beispiel für kärgliche Innovationsraten und schneckenhafte Umsetzungsgeschwindigkeit stellt die seit einer Dekade in Aussicht gestellte "Konvergenz der Informatik und Unterhaltungselektronik", die jetzt langsam in die Hufe kommt.




Aber was steht uns da eigentlich ins Haus? Als Pionierin der konvergierten Entertainment-Technik gilt Apple, deren Boss Steve Jobs den andernorts oft als Auslaufmodell gehandelten Desktop-PC in flammenden Expo-Keynotes als "digitalen Hub" positioniert - dabei ist die aktuellste iMac-Generation nichts weiter als ein gut aussehender, schnittstellenmässig komplett ausgestatteter PC mit DVD-Brenner, ergänzt durch ein paar Consumer-freundliche Softwarepakete zum Umgang mit Musik-, Video- und Fotodateien. Einen Schritt weiter gehen die aktuellen "Media Center"-Geräte, die als Komplettangebot bisher vor allem im US-Markt verfügbar sind. Das Alleinstellungsmerkmal solcher Apparate - die im übrigen ebenfalls nichts anderes sind als ein hundskommuner PC mit wohnzimmeruntauglichem Lüftergeräusch - ist ein eingebauter TV-Tuner samt Videoaufzeichnungssoftware mit Timeshift-Option.



Die Versprechen klingen galaktisch, in der Praxis stürzen solche Lösungen oft ab, sind wenig benutzerfreundlich und qualitativ trotz versprochener "besser-als-VHS-Qualität" dürftig. Wer eine Harddisk-gespeicherte Fernsehshow dann auch noch dauerhaft auf DVD brennen will, muss auch mit dem schnellsten erhältlichen PC-Prozessor mit stundenlangen Encodier-Sessions rechnen.



Dipl. Ing. Ochsner vom Kassensturz würde solches mit dem "Untauglich"-Stempel brandmarken - die ganze Übung kommt einem so vor, als wolle die Computerindustrie in einer Art Me-Too-Anfall die harzigen Umsätze im Business-Bereich durch eine halbherzig umgesetzte Consumer-Revolution kompensieren. Ins gleiche Bild passen gross propagierte Neuheiten wie LCD-Fernseher von Dell und MP3-Player samt Musikdownload-Service von HP: Me-Too vom Feinsten. Denn die traditionelle Unterhaltungselektronikindustrie bietet vergleichbare Produkte in Hülle und Fülle, und Philips/Sony/B&O & Co. gebe ich punkto Bild und Ton immer noch einiges mehr an Kompetenzkredit als einem Computerhersteller.



Das Me-Too-Prinzip beschränkt sich nicht auf den Consumer-Sektor, wie das Beispiel HP anschaulich zeigt: Neben Online-Musikshop und Musikplayer (kennt man von Apple) sowie LCD-Fernsehern (siehe Dell) bringt HP auch im Unternehmensumfeld zunehmend aufgewärmte Kost. Sowohl die "Adaptive Enterprise" als auch die vermehrte Ausrichtung aufs Dienstleistungsgeschäft kennt man von einem anderen grossen IT-Hersteller schon länger. Ist es vielleicht so, dass die ganz grossen neuen Ideen in Zeiten von Organisationsstraffung und Sparhysterie schlicht und einfach keinen Platz mehr haben?

(ubi)


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