CRM: Software-Kategorie oder Management-Philosophie?
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/29
CRM war schon im letzten Jahr ein terminologischer Sommerhit. Kaum eine IT-Publikation, die sich nicht mit dem Begriff befasste, der eine Reihe neuartiger IT-Anwendungen und dazu passender Management-Methoden zusammenfasst. Die Rede war dabei meist von millionenschweren Implementationen teurer Softwarepakete bei Grossunternehmen wie Banken und Versicherungen, vor allem aber bei Unternehmen der Telekommunikationsbranche. Bekannte Hersteller solcher Systeme sind Siebel und Applix.
Auf der anderen Seite bezeichnen heute Softwareentwickler, die früher eine "Adressverwaltung" anboten, ihr Produkt ebenfalls als CRM-Software - Anpassung an einen Modebegriff oder korrekte Produktespezifikation? Was ist überhaupt CRM? Und für welche Art von Unternehmen kommt der Einsatz von CRM-Anwendungen in Frage - wo bringt er Nutzen, wo ist er überflüssig?
Zur Klärung des CRM-Nebels haben wir fünf Vertreter von Softwareherstellern und Beratungsunternehmen, die auf CRM spezialisiert sind, mit fünf Fragen konfrontiert, die im folgenden im Detail kommentiert sind. Antworten erhielten wir von Michael Brendel (Team Brendel, Hersteller des CRM-Pakets WinCard CRM), Tom Buser (Leiter CRM Solutions beim Beratungsunternehmen Pidas und Fachhochschuldozent), Christiane Kördel und Silke Masurat (Geschäftsführerin und PR-Managerin der Combit, Hersteller des Kontaktmanagement-Pakets Address Manager) und Sven +Färber (Director Strategic Projects bei Logical Solutions).
Aus den Antworten geht vor allem eines hervor: CRM ist alles andere als bloss eine neue Softwarekategorie. Wesentlich wichtiger als irgendwelche Spezialsoftware mit einer Unmenge von Funktionen ist die Unternehmensphilosophie, die hinter dem Customer Relationship Management steht: Das Ziel ist der langfristige Unternehmenserfolg durch zufriedene und immer wiederkehrende Kunden, erreicht wird es durch eine konsequente Ausrichtung aller Prozesse auf den Kunden, mit dem das Unternehmen im ständigen Dialog stehen muss. Dies hilft grundsätzlich jedem Unternehmen, völlig unabhängig von Unternehmensgrösse, Unternehmensart (Industrie, Handel, Gewerbe, Dienstleistung) und Branche.
Eine durchgängige Ausrichtung auf den Kunden ist nur möglich, wenn vom ersten Kontakt an jede Interaktion mit dem Kunden protokolliert wird und die so entstehende Kunden-History jederzeit allen Mitarbeitern des Unternehmens zugänglich ist, die irgendwann mit dem Kunden zu tun haben, und zwar in einer sinnvoll aufbereiteten Form, damit die zur jeweiligen Situation - Verkaufsgespräch, Mängelrüge, Supportanfrage und so weiter - passende Information sofort zur Verfügung steht.
Dabei können Softwaretools helfen. Die für dieses sogenannte operative CRM benötigten Hauptfunktionen Kunden-History und Workflow sind zu einem gewissen Grad in jeder Kontaktmanagement-Software enthalten: Es ist die Art der Nutzung und die Ausrichtung der Unternehmensprozesse, die aus einer Adressverwaltung eine CRM-Anwendung macht.
Eine CRM-Nebenkategorie bildet Software, die entweder direkt dem Kunden oder dem zuständigen Mitarbeiter auf eine Suchanfrage hin automatisch die gewünschte Information liefert. Solche Pakete kommen vor allem im Supportbereich vor; sie können die Supportabteilung massgeblich entlasten und vermitteln bei guter Implementation dem Kunden das Gefühl, er erhalte jederzeit kompetente Lösungen für seine Probleme. Die Bandbreite der Funktionalität solcher Systeme geht von einfachen Supportdatenbanken mit Lösungsbeschreibungen für einzelne Probleme über natursprachliche Abfragesysteme bis hin zu "elektronischen Beratern", die ein Beratungsgespräch von Mensch zu Mensch simulieren. Derartige "E-CRM"-Systeme machen vor allem für Unternehmen Sinn, die auch sonst stark auf E-Commerce setzen oder eine Massenkundschaft bedienen.
Noch einen Schritt weiter geht das analytische CRM: Aus den im operativen CRM-System gesammelten Daten können mit Hilfe von Analysetechniken wie Data Mining und OLAP Erkenntnisse zur Kundensegmentierung vor allem für das Marketing sowie zum aktuellen Status einzelner Kunden gewonnen werden: Welche Kunden sind unrentabel, welche entwicklungsfähig, welche drohen abzuspringen?
Analytisches CRM erfordert eingehende Beschäftigung mit den Daten und die Beherrschung komplexer Tools - laut Sven Färber wird diese Art von CRM deshalb viel zu wenig genutzt. Als wichtiges Kriterium bei der Wahl eines operativen CRM-Systems im Hinblick auf eine spätere Erweiterung zum analytischen CRM vermerkt Färber die Offenheit des Systems: "Wer auf ein operatives CRM-System setzt, das eine proprietäre Datenbank verwendet, kann die Daten unter Umständen später nicht für analytisches CRM nutzen oder muss bei einem Systemwechsel mit Datenverlust rechnen."
Gemäss Combit-Geschäftsführerin Kördel ist CRM "ein ganzheitlicher Ansatz der kundenorientierten Unternehmensführung". Das Motto dabei: "Der Kunde ist König" - und CRM-Software unterstützt das Unternehmen bei der königlichen Behandlung der Kunden.
Michael Brendel betont, dass CRM heute für die softwaretechnische Umsetzung der gleichnamigen Management-Philosophie stehe, deren Ziel nicht die Verwaltung von Daten, sondern ein effizienteres Arbeiten im Sinn einer optimalen Kundenbetreuung ist: "Es ist die Umsetzung des Tante-Emma-Prinzips in die Gegenwart. Es geht darum, viel über jeden Kunden zu wissen, um ihn optimal zu bedienen."
Für Tom Buser ist der wichtigste Aspekt, dass bei der CRM-Umsetzung das Zusammenspiel von Mensch, Organisation und Technik klappt: Ohne radikale Änderung der Organisation weg von einer abteilungsorientierten zu einer prozessorientierten Struktur bringt die teuerste CRM-Software nichts. CRM verfolgt, so Buser, zudem einen anderen Ansatz als das in den 1990er Jahren aufgekommene TQM-Modell (Total Quality Management): Dieses konzentriert sich auf unternehmensinterne Aspekte; die per CRM realisierbare "Total Customer Care" dagegen ist nach aussen zum Kunden hin gerichtet.
Färber bringt auf den Punkt, dass CRM eigentlich nichts neues ist: "Kundenbetreuung ist so alt wie der Handel selbst. Was sich geändert hat, ist der Einsatz von Informatikwerkzeugen, um die Betreuung der Kunden nicht dem Zufall zu überlassen."
Michael Brendels Erfahrung aus über 400 Projekten: "Die Kernkompetenz der Software muss klar im Vertriebsbereich liegen. Bei CRM-Projekten in KMU stehen die Implementierung eines zentralen Datenmanagements und die Einführung vertriebsrelevanter Adress- und Kontaktmangement-Funktionen an erster Stelle. Erst in weiteren Ausbauschritten werden auch Funktionen für das Marketing (Kampagnen-Management) und den Service (Ticketing und Knowledgebase) eingeführt." Generell seien aber nicht eine riesige Funktionsfülle oder besondere technische Raffinessen wesentlich, sondern die Ergonomie: Das CRM-System soll den Anwender bei Eingabe, Pflege und Abruf der Informationen wirklich unterstützen, leicht erlernbar sein und keine komplizierte Bedienung erfordern.
Sowohl Färber als auch Buser stellen die Kunden-History in den Vordergrund. Alle Kundenkontakte müssen elektronisch gespeichert und historisiert werden, im Idealfall nicht bloss als Text, sondern in durch Software auswertbarer Form. Ebenfalls essentiell: Workflow-Unterstützung. Die Software muss einen Kundenkontakt nahtlos durch das Unternehmen leiten können; dadurch wird die Anfrage unabhängig vom einzelnen Mitarbeiter und kann transparent vom jeweils geeignetsten Spezialisten behandelt werden, ohne dass das peinliche "Bünzen-bei-Boswil-Syndrom" (x-faches Weiterverbinden, wobei jedesmal das ganze Problem neu geschildert werden muss) eintritt.
Konkreter punkto Features wird die Firma Combit. Neben genereller Flexibilität (frei gestaltbare Datenbanken und Eingabemasken), Auswertungsfunktionen auch mit komplexen Suchkriterien sowie der Möglichkeit, Abläufe durch Scripting zu automatisieren, erleichtern Details wie mehrere Ansprechpartner pro Adresse, benutzerspezifische Zugriffsrechte auf Feld-, Datensatz- und Datenbankebene, Telefoniefunktionen wie Anrufererkennung und die Integration mit Textverarbeitung, Mail- und Faxsoftware die Arbeit.
Auch Combit legt besonderen Wert auf die Bedienung, die durch Hilfsfunktionen bei der Dateneingabe wie PLZ-Datenbank und Folgeverknüpfungen unterstützt sein sollte.
Ergonomische CRM-Software fördert auch die Mitarbeiterzufriedenheit, ohne die eine hohe Kundenzufriedenheit sowieso nicht erreichbar ist: Es gibt nichts, hier sind sich alle CRM-Experten einig, was die Kundenbeziehung nachhaltiger stört als mürrische, unfreundliche und unpersönliche Abfertigung durch frustrierte Sachbearbeiter. Färber: "Der weitaus kritischste Punkt ist die Unternehmenskultur. Ist diese nicht auf CRM ausgerichtet, wird kein System der Welt jemals eine gute Unterstützung leisten."
CRM-Hersteller Michael Brendel kehrt die Frage um: "Welches Unternehmen kann es sich leisten, kein Kundenbeziehungsmanagement zu praktizieren? Natürlich kommt man heute auch nicht mehr um den Einsatz geeigneter Softwarelösungen herum. Die Frage müsste eigentlich lauten: Welche Lösung eignet sich für welches Unternehmen."
Wichtig sei vor allem, dass man zu Beginn nicht eine zu umfangreiche Lösung wählt: "Wer als Anbieter komplexer Anwendungen im KMU-Bereich erfolgreich sein und bleiben will, sollte nicht den Fehler machen, die Fülle der Möglichkeiten auf einen Schlag zu verkaufen und implementieren zu wollen. Das ist, als würden Sie Ihren Kunden einen Festbraten mit einem Bissen schlucken lassen. Es geht vielmehr darum, in vernünftigen, verdaubaren Portionen zu geniessen. Auf unsere Branche übertragen, bedeutet das, den Spagat zwischen Individual- und Standardlösung zu meistern und im Vorfeld möglichst viel im Produkt auf die konkreten Bedürfnisse des Zielmarktes auszurichten."
Passende CRM-Lösungen, so die einhellige Meinung, gibt es für alle Unternehmen - allerdings eignet sich nicht für jede Firma das gleiche Produkt.
Die Firmengrösse spielt keine Rolle, wie Buser bemerkt. "Als Geisteshaltung ist CRM überall einsetzbar; spezielle Technik braucht es vor allem bei hohem Kundenaufkommen, und zwar unabhängig von der Anzahl der Mitarbeiter - auch eine 3-Mann-Handelsfirma kann 20'000 Kunden bedienen. Das wichtigste Kriterium ist die Anzahl der Kundeninteraktionen." Weniger nötig sei CRM-Technik allerdings dort, wo ohnehin jeder Kunde einen persönlichen Kontakt im Unternehmen hat. Dies kann in Industriebetrieben mit Grossprojekten, die von ganzen Projektteams betreut werden, ebenso der Fall sein wie bei einer Kleinstfirma, wo der Inhaber höchstselbst im Laden steht und jeden Kunden per Handschlag begrüsst.
Färber präzisiert das Kriterium Kundeninteraktionen zusätzlich. Die Menge der Kundenkontakte hängt sowohl von der Anzahl Kunden als auch von der Anzahl Produkte ab. "Man kann nicht sagen, es brauche CRM zum Beispiel ab fünfhundert Kunden. Wenn eine Firma hundert Kunden hat, aber mehrere tausend Artikel oder Dienstleistungspositionen im Portfolio, macht ein CRM-System ebenso Sinn wie bei tausend Kunden und hundert Artikeln. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass der Kiosk an der Ecke sicher kein CRM braucht - ausser er gehört einer Kette an."
Von den Experten unerwähnt, aber nicht minder bedeutend: Die Betreuungsintensität der Produkte ist der dritte bestimmende Faktor für die Kundeninteraktionen: Je komplexer oder fehleranfälliger die Produkte sind, desto mehr Kundenkontakte werden erfolgen.
Brendel wehrt vehement ab: "Das ist nicht ketzerisch, sondern schlicht falsch. CRM ist ein langfristiger Prozess, der bereits beim Erstkontakt beginnt, den gesamten Kundenlebenszyklus begleitet und ihn deutlich verlängern hilft." PR-Managerin Silke Masurat von Combit stösst ins gleiche Horn: "CRM erst dann einsetzen zu wollen, wenn die Probleme schon da sind, ist der falsche Denkansatz." Und auch Färber betont, wenn CRM einen besseren Kundenkontakt schaffen könne, lasse sich damit auch verhindern, dass er überhaupt abbricht. "Ist schon von Anfang an ein System zur Unterstützung der Kundenbindung da, kommt es gar nicht erst zum Verlust des Kontaktes."
Etwas anders, nämlich so, wie sie eigentlich gemeint war, versteht Buser die Frage: CRM wird erst im heutigen Marktumfeld überhaupt nötig; Tante Emma konnte noch gut und gern darauf verzichten. "Auf dem Markt geht es immer ruppiger zu. Die Produkte werden immer ähnlicher, Preise sind dank Internet weltweit vergleichbar, die Kunden sind informierter und kritischer geworden. Als Folge hängt die Kundenbindung immer weniger von harten Fakten ab; irrationale Ausstiegsbarrieren werden zunehmend wichtig."
Sobald der Kunde den Kontakt zum Unternehmen nicht mehr als angenehm empfindet, wechselt er zur Konkurrenz. Studien zeigen, dass mangelnder Kundenservice bei 68 Prozent aller abwandernden Kunden den Ausschlag gibt; Unzufriedenheit mit dem Produkt selbst ist nur in 14 Prozent der Fälle ausschlaggebend für den Absprung. Insbesondere Anbieter von beliebig austauschbaren Dienstleistungen können sich nur noch durch die Qualität der Kundenbeziehung differenzieren, und diese lässt sich durch CRM-Software verbessern.
Die klare Antwort von Sven Färber: "Die Software ist das Werkzeug. Nur wer gutes Werkzeug hat, kann auch gute Arbeit leisten - ob es dann gleich das teuerste sein muss, sei dahingestellt. Viel wichtiger ist, dass die Software die Unternehmensprozesse unterstützt und nicht etwa durch eine viel zu hohe Komplexität paralysiert."
Auf diesen Punkt verweist auch Tom Buser - wie bei der Office-Suite werden auch bei CRM-Software meist nur zehn Prozent der teilweise hochkomplexen Features wirklich gebraucht. "Wir hatten schon CRM-Projekte, die mit gutem Resultat ohne grosse Änderungen an der Technik auskamen. Dabei wurde die bestehende Infrastruktur, zum Beispiel Lotus Notes, für die CRM-Prozesse genutzt". Ausschlaggebend ist also, einerseits die bereits vorhandenen Tools voll auszunutzen und andererseits neu dazukommende CRM-Spezialsoftware so einzusetzen, dass die Mitarbeiter wirklich davon profitieren. Dies schliesst auch eine eingehende Schulung sowie den Einbezug der Fachbereiche vom Start des CRM-Projekts weg ein - eine CRM-Implementation, die ausschliesslich von der IT-Abteilung vorangetrieben wird, ist zum Scheitern verurteilt.
Bei Combit betont man, dass es sich nicht um ein teures System handeln muss; auch mit einer preiswerten Standardlösung gelingt der Einstieg ins professionelle Kundenmanagement.
Damit ist Kontaktmanagement- und Sales-Force-Automation-Software wie der von Combit selbst entwickelte Address Manager gemeint; vergleichbare Produkte sind Adress Plus von Cobra, Organice von Bit by Bit, Act! von Interact, Goldmine von Frontrange sowie WinCard CRM von Team Brendel, das laut Michael Brendel in der Schweiz nur wenig Konkurrenz hat.
Diese CRM-Kategorie umfasst in erster Linie das operative CRM im Verkaufsbereich. Die "teuren Systeme" kommen zum Beispiel von Siebel oder Applix, sind modular aufgebaut und bieten zusätzlich zur reinen Kunden-History Funktionen wie Workflow, Ticketing und Wissensdatenbank sowie eine offene, standardbasierte Architektur, die sie auch für das analytische CRM geeignet macht.