Achtung Viruswarnung: Die Changemüdigkeit hat zugeschlagen!
Marc Wethmar M.Sc.BA, Berater für Organisationsentwicklung, Kern Konsult Schweiz
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/18
Ist Ihr erster Gedanke beim Lesen dieses Titels «Nicht schon wieder was zum Thema Changemanagement» oder «Da kommt schon wieder ein Schlauer und meint er hätte das Allheilmittel gefunden, ich kann es nicht mehr hören! Es funktioniert doch sowieso nicht!».
Dann gehören Sie möglicherweise zu den Menschen die infiziert sind vom Chronischem-Change-Müdigkeits-Virus. Dieser Virus ist weit verbreitet. Die Symptome sind: Frust und Resignation, dass so viele Changeprojekte so wenig Nachhaltiges bewirken. In Folge dessen verspürt man wenig Lust sich auf anstehende Changeprozesse einzulassen.
Ich biete Ihnen kein Rezept um diese Symptome zu behandeln, aber grundlegende Perspektiven die zu einer Heilung beitragen können.
Erst einmal müssen wir unsere Ausgangslage untersuchen und beschreiben. Das ist mühsam, ich weiss. Es ist aber unumgänglich die eigene Situation zu erfassen. Aus eigenen Erfahrungen als Berater in verschiedenen (Gross-)Unternehmungen stelle ich immer wieder fest:
· Changeprozesse werden ohne Commitment der Betroffenen umgesetzt, sondern nach dem Prinzip «Das schaffen wir schon».
Es ist wie Einstein schon sagte: Willst Du ein Problem wirklich lösen so musst Du es auf einer anderen Ebene angehen als wo sich das Problem befindet. Leicht gesagt, was heisst das jetzt bezogen auf das nachhaltig ausrichten und führen von Veränderungsprozessen?
Die Erkenntnis, dass unsere gewohnten Denk- und Handlungsweisen, zu oberflächlich sind um den Kern der Problematik zu treffen, ist der erste wesentliche Schritt. Wir wissen dass uns das nicht leicht fällt, an zu nehmen dass wir nicht weiter kommen auf dem gewohnten Pfad. Wir können uns aber dazu entschliessen neue Wege aus zu probieren.
Wie können wir unsere vorhandenen Kräfte anders ausrichten? Indem wir unsere Aufmerksamkeit vertiefen und erweitern. Ich möchte hier das 4-D-Modell der Aufmerksamkeit einführen als ein Hilfsmittel dazu. (Siehe Abbildung 1)
1e Dimension: Auto-Pilot
Die 1e Dimension kennen wir aus vielen Besprechungen, die völlig nutzlos ablaufen und wo wir unsere Aufmerksamkeit vor allem nach Innen richten. Anders gesagt: Wir schalten den Automatischen Pilot ein. Folge: Kein Kontakt mit dem Gegenüber, es passiert nichts Neues, es bewegt sich nichts. Manchmal ist dieser Selbstschutz-Mechanismus auch notwendig (Survival-mode).
2e Dimension: Farbe bekennen
Die 2e Dimension der Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf unser Eigeninteresse. Das sind die Debatten mit immer gleichbleibenden Standpunkten in denen man sich versteift auf die eigene Sichtweise. Das Gute daran ist, man bekennt Farbe, was Andere dazu auffordert dasselbe zu tun. Folge: Man blockiert sich oftmals in den Standpunkten, es entsteht auch hier nicht wirklich etwas Neues. Oft wird dann entweder nichts anderes gemacht als sich in den Argumenten zu wiederholen, oder der Chef entscheidet weil es ihm zu lang geht.
3e Dimension: Respekt und Interesse
Um diese 3e Dimension zu erreichen benötigt es eine grössere Anstrengung und auch Mut. Es geht darum sich wirklich auf die Sichtweisen des Anderen ein zu lassen. Stephen Covey1 nennt das: «Ich muss es erst selber verstehen bevor ich mich verständlich machen kann.» Dafür müssen wir unsere Reflexe und Gewohnheiten loslassen. Echte Aufmerksamkeit, Respekt und Interesse für den Standpunkt des Anderen zeigen, ohne unseren eigenen Standpunkt restlos auf zu geben, darum geht es.
4e Dimension: Das Ganze überblicken
Der Schlüssel zur 4ten Dimension ist wieder die Aufmerksamkeit. Wir können hier lernen unsere Aufmerksamkeit bedingungslos zu richten auf das was uns umgibt, in all seinen Facetten. Das Wunderliche ist, dass diese Art von Aufmerksamkeit sich selbst vermehrt, es ist ansteckend, lässt uns lachen, Spass haben und auch Emotionen zeigen, es beflügelt und begeistert uns, zeigt Synergien auf. Es kann eine Art Flow-Gefühl entstehen, das sind seltene und schöne Momente. Claus Otto Scharmer2 nennt dies «Open mind, open heart and open will», die vorrausetzungslose Aufmerksamkeit.
Ich muss mich dafür wirklich lösen können von alten Denk- und Handlungsgewohnheiten, damit ich mich auf diese neue Dimension einlassen kann. Die Wertschätzung von allem was schon da ist, statt unserer routinierten Defizit-Fokussierung, ist hier sehr wichtig. Diese Dimension der Aufmerksamkeit hilft uns die Zusammenhänge rascher zu erkennen und zu verstehen. Sie gibt uns auch die Möglichkeit die richtigen Prioritäten zu setzen. Sie schafft auch den anderen Beteiligten den benötigten Raum, um zu neuen Gedanken zu kommen.
Die 4 Dimensionen der Aufmerksamkeit
Wie schaffe ich als Führungskraft das benötigte Commitment für mein Veränderungsvorhaben? Commitment heisst für mich, dass die Betroffenen sich verbinden mit dem Neuen, mit dem Sollentwurf, dass Sie sich angezogen fühlen, aber auch dass sie darin ihre eigene Verantwortung übernehmen. Es geht also um Verbunden sein und Verantwortung übernehmen.
Wie kann ich dafür den Raum schaffen? Der Kreationsprozess (siehe Abbildung 2) kann dabei ein wichtiges Hilfsmittel sein. Er schafft die Möglichkeit die weichen und die harten Faktoren miteinander in Verbindung zu bringen. Die SIE und der ES - Pol der Lemniskate (eine dynamische 8) beziehen sich auf die mehr harten Faktoren. Der ICH und WIR - Pol beziehen sich mehr auf die weichen Faktoren. Das sind nicht nur einfach Worte, sondern sind 4 Perspektiven die sich, richtig angelegt, schon bei vielen grossen und kleinen Veränderungsvorhaben als sehr klärend und vereinfachend erwiesen haben.
A. SIE – Kunden & Stakeholder
Es ist wichtig den Anfang beim SIE zu machen, bei den Sichtweisen und Bedürfnissen der Kunden und Stakeholder. Ohne Sie hat die Veränderung keine Existenzberechtigung. Hier gilt es diese Bedürfnisse und Sichtweisen voll und ganz zu erfassen und zu verstehen, ohne Urteil, mit Respekt und Interesse, also der dritten Dimension der Aufmerksamkeit.
B. ICH – Was ich dazu beitrage
Wie kann ich mich mit den Bedürfnissen der Kunden & Stakeholder, dass heisst den Nutzern des Veränderungsprozesses, verbinden? Was kann ich, mit meinem kreativen Potential und Fähigkeiten dazu beitragen dass diese erfüllt werden? Jeder Mensch möchte im Herzen etwas Sinnvolles beitragen. Wenn Ich zudem eingeladen werden meine Leidenschaft und mein volles kreatives Potential ein zu bringen für einen sinnvollen Beitrag so fühle ich mich verbunden und kann mich engagieren.
C. WIR - Wie wir es tun
Hier kommt zur Sprache auf welche Art und Weise wir die Veränderung umsetzen wollen, wovon wollen wir uns in der Zusammenarbeit leiten lassen? Was ist uns wichtig in der Kommunikation, etc. wer übernimmt dann welche Rollen, mit welchen Kompetenzen? Oft werden in Changeprozessen aufwändige Steuerungs- und Projektgruppen installiert. Teilnehmer werden nominiert, ohne sich grundlegende Gedanken zu machen über die Qualität der Beziehungen zwischen den Akteuren, den Anforderungen an die Akteure und der grundlegenden Gestaltung der Zusammenarbeit.
D. ES – Was wir erbringen
Erst jetzt kommt das WAS auf das Tapet. Was wollen wir konkret erbringen um die Bedürfnisse der Kunden & Stakeholder zu erfüllen? Welchen Nutzen, welche Leistungen wollen wir mit dem Changeprozess konkret erbringen? Welche Hilfsmittel benötigt es hierfür? Hier gilt also: Die Form folgt dem Prozess und nicht umgekehrt.
Dieser Kreationsprozess vom SIE zum ICH zum WIR zum ES schliesst die weichen und harten Faktoren in einen sorgsamen Prozess ein und bringt sie in Verbindung zueinander. Wichtig ist, dass keine der 4 Perspektiven dominant wird, sondern es gilt die richtige Balance zu finden. Die genannten 4 Dimensionen der Aufmerksamkeit kommen hier überall zum Tragen.
Herkömmliche Changeprozesse fixieren sich auf das SIE und das ES (Prozesse, Strukturen, Produkte etc.) als Antwort darauf. Das ICH und WIR wird nicht berücksichtigt oder nur als Nebengeräusch wahrgenommen. Man «benchmarked» die Bedürfnisse der Kunden (SIE), entwirft darauf eine intelligente Antwort (ES) und implementiert diese. Kein Wunder dass sich die Menschen mit diesen Veränderungen nicht verbinden können, denn sie fühlen sich instrumentalisiert, klinken sich aus und werden schlussendlich changemüde.
Der Kreationsprozess
Wenn ich mit vertiefter und erweiterter Aufmerksamkeit die Bedürfnisse der Kunden und Stakeholder erfassen kann, Raum schaffe dass die einzelnen Menschen sich leidenschaftlich mit ihrem kreativen Potential verbinden können, dies sich niederschlägt in eine grundlegend definierte und vereinbarte Zusammenarbeit, dann kann auch ein tragfähiger Beitrag des ganzen Changevorhabens nachhaltig wirksam werden. So kann vielleicht der eine oder andere chronisch «Change-Müde» zu neuem Leben erweckt werden und sich pro-aktiv einbringen.
1 Stephen R. Covey: «Der 8e Weg», Gabal Management, 2006
2 C. Otto Scharmer: «Theory U», The Society for Organizational Learning, 2007