Wie lange lebt ein Vertrag? Rechtliche Aspekte des Information Lifecycle Management
Robert G. Briner, Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich und Leiter der SwissICT Rechtskommission
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/10
Es mag erstaunen, dass «die Information» nach traditionellem Rechtsverständnis kein Rechtsgut ist. Rechtsgüter nach geltendem Recht sind klassische Begriffe und Konzepte wie «Eigentum» oder «körperliche Unversehrtheit», aber auch Institutionen wie die Ehe, oder Positionen des Bürgers gegenüber dem Staat wie der Anspruch auf ein faires Verfahren.
Information als solche ist kein Rechtsgut. Es ist schon schwierig zu definieren, was überhaupt als Information gelten kann oder soll.
Für den Informatiker und Organisator liegt es nahe, Informationen mit «Daten» gleichzusetzen. Daten werden im Recht nicht als solche geschützt, sind aber indirekt trotzdem Gegenstand zahlreicher Rechtsvorschriften. Spontan denkt man zutreffenderweise an den Datenschutz. Datenschutzrecht schützt personenbezogene Daten wie Name, Geburtsdatum, Lieblingsessen und letzte Feriendestination vor Missbrauch. Strafrecht schützt unter gewissen Umständen das Ausplaudern und Nutzen von geheimen Kenntnissen. Das Fernmelde‑ und das Postgeheimnis schützen den Inhalt von Telefongesprächen und Mails bzw. Briefen vor dem Zugriff des Staats. Der Inhalt von Patentschriften ist zwar der Öffentlichkeit frei zugänglich, aber ihre Nutzung ist dem Patentinhaber vorbehalten.
Noch schwieriger wird es ‑ immer mit der Brille des Juristen ‑ deswegen, weil die meisten Daten im Rechtsverkehr eine Stufe an Abstraktheit und/oder Komplexität haben, die man den Daten als solchen als Laie nicht zwingend ansieht, und die sich auch dem Juristen oft nur nach genauer Analyse erschliessen.
Wären alle Daten im Rechtsverkehr klar und aus sich heraus verständlich und eindeutig, gäbe es keine Meinungsverschiedenheiten, welche durch die Gerichte entschieden werden müssen.
Ohne Kenntnis der Zusammenhänge und aller anderen zugehörigen Daten ist beispielsweise einem Mail mit dem Inhalt «Ich bestelle unter Bezugnahme auf Ihr Mail vom letzten Montag das Auto mit MP3-Anschluss» nicht anzusehen, dass damit ein Kaufvertrag zustandegekommen ist, und dass er vom «letzten Montag» datiert. Noch viel weniger sieht man dem Mail an ‑ das heisst, noch viel weniger geben die Daten dieses Mails die Information preis ‑, wann das Lieferdatum sein wird, wie die weiteren Einzelheiten des Kaufvertrags lauten, und wann die Garantie ablaufen wird.
Die Antwort auf diese Frage ist typisch für Juristen: es kommt darauf an. Worauf? Bleiben wir beim vorhin erwähnten Beispiel des Kaufs eines Autos mit der Option «MP3-Anschluss». Wenn die Ablieferung im Vordergrund steht, kann man dem Vertrag selber noch gar nicht entnehmen, wann sein Lifecycle beendet ist, weil das Lieferdatum üblicherweise bestenfalls eine Circa-Angabe ist. Dasselbe gilt aber auch für die Garantiefrist: sie beginnt mit der Ablieferung.
Man wäre also versucht zu denken, aus den Informationen «Vertrag» und «Ablieferung» seien die relevanten «Informationen» für das Lifecycle-Management zu gewinnen. Das stimmt leider nicht. Man ist auf den Vertrag unter Umständen auch angewiesen, weil man sein Eigentum am Auto beweisen muss, oder weil man gegenüber der Versicherung den Kaufpreis beweisen muss: die Information «Vertrag» bleibt damit im rechtlichen Kontext solange relevant, wie man auf den Vertrag angewiesen sein könnte. Schon dieses einfache Beispiel zeigt, dass das Information Lifecycle Management aus rechtlicher Sicht höchst anforderungsreich ist.
Das Gesetz verlangt die Aufbewahrung von Informationen in vielfältiger Art und Weise. Bei Privatpersonen geht es relativ milde zu und her. Wenn man seinen AHV-Ausweis verliert, kann man sich ein Duplikat ausstellen lassen. Wenn man den Schriftenempfangsschein verliert, verursacht das schon einigen Aufwand. Wenn man den Lohnausweis nicht findet, gibt es Ärger mit der Steuer.
Von den Unternehmen wird allerdings viel mehr verlangt. Sie müssen alle Informationen aufbewahren, welche in einem weiten Sinne mit ihrer finanziellen Situation (Bilanz, Erfolgsrechnung) zusammenhängen.
Für Private und Unternehmen gilt gleichermassen, dass das Gesetz im übrigen nicht strikte verlangt, dass Informationen aufbewahrt werden müssen. Man ist einfach «selber schuld», wenn man sie nicht hat. Mietvertrag in den Reisswolf gegeben? Pech, wenn man wissen müsste, wie die Mietzinsanpassung geregelt ist. Echtheitszertifikat für den Teppich verloren? Pech, wenn man ihn verkaufen will.
So gibt es, je nach Relevanz und «Ärgerpotential» von rechtlich relevanten Unterlagen, Aufbewahrungsfristen von ganz verschiedener Dauer. Die Statuten sollte man «ewig» aufbewahren, alles andere mindestens bis zum Eintritt der Verjährung, und man sollte beachten, dass die Verjährungsfristen in Steuersachen oft anders geregelt sind als im normalen Zivilrecht oder im übrigen öffentlichen Recht.
Welches der Lifecycle von rechtlichen Informationen ist, hängt damit entscheidend von Faktoren ab, die man den Informationen als solchen im Regelfall gar nicht ansieht. Wollte man den Lifecycle durchweg vollständig erfassen, müsste jede Informationen von einem Juristen begutachtet werden ‑ was offensichtlich nicht möglich ist. Wieviel Aufwand man treiben will, muss anhand der Zielsetzung des Informationsmanagements entschieden werden, und muss auch in einer vernünftigen Relation zum erhofften Nutzen stehen.
Bei der Lektüre einschlägiger Beiträge zum Information Lifecycle Management fällt dem Juristen rasch auf, dass die effiziente Verwaltung der erfassten Information im Vordergrund steht, währenddem bei den Anforderungen an die Erfassung der Information noble Zurückhaltung herrscht. Dabei gilt auch hier das Axiom Nummer 1 der Informatik: GIGO! Garbage-In, Garbage-Out!