Auflösung alter Grenzen

Mehr als zwei Drittel der Wertschöpfung wird in Westeuropa durch Büroarbeit erarbeitet. Heute bereits machen Wissensarbeiter die Mehrzahl der Bürobeschäftigten aus. Dies bedeutet, dass der Anteil an Kommunikation zunimmt, der Erwerb und die Synchronisation von Wissen im Vordergrund stehen. Das verlangt neue Organisations- und Arbeitsformen für die Bürotätigkeiten.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2008/16

     

Die heutigen Organisationsformen der Büroarbeit stammen in aller Regel aus der Industriegesellschaft. Damals waren sie auch erfolgreich. Aber die Produktivität im Büro wächst weit langsamer als die in der Fertigung. Zwischen 1960 und 1990 stieg die Produktivität in der Fertigung um 90 Prozent, im Büro aber nur um 5 Prozent.
Während die Verwendung von Computern, E-Mails und anderen technischen Innovationen für die heutige Büroarbeit selbstverständlich ist, haben sich dadurch die meisten Arbeitsprozesse und Verhaltensweisen in den Büros nicht selbstverständlich verändert. Die technischen Hilfsmittel vereinfachen zwar vielfach die Arbeit im Büro und Teiltätigkeiten werden dadurch schneller ausgeführt, jedoch bleiben in vielen Unternehmen die grundsätzlichen Arbeitsabläufe der Büroarbeit weiterhin unverändert.



Einzelne Büro-Mitarbeiter nehmen sehr bewusst Arbeit mit nach Hause oder auf Reisen oder in ihre Freizeit mit, und zwar immer dann, wenn sie aus unterschiedlichen Gründen ihren Büroarbeitsplatz nicht als den am besten geeigneten Ort für die Bewältigung einer konkreten Aufgaben ansehen. Wenn dem aber so ist, so ergibt sich daraus ein dringender Handlungsbedarf seitens der Unternehmen, die sie zu einer grundlegenden Überarbeitung ihrer Bürokonzepte zwingt. Dabei sind technologische und gesellschaftliche Trends zu beachten.




Der Charakter von Trends ist, dass sie eine Richtung aufzeigen; bei technologischen Trends lässt sich diese auch eindeutig erkennen. Der gesellschaftliche Wandel ist jedoch bipolar, er geht sowohl in die eine wie auch in die andere Richtung. Und ob ein technologischer Fortschritt akzeptiert wird, entscheidet der Anwender, der Mensch, der vom gesellschaftlichen Wandel getrieben wird.
Der Trend «Virtualisierung der Strukturen in Organisation und Famlie» führt zu:


1. Individualisierung des (Arbeits)Lebens und Suche nach Gemeinschaft

Seit einiger Zeit ist ein Wandel der Erwerbsformen zu verzeichnen. In Deutschland hat sich die klassische Vollzeitbeschäftigung in den vergangenen zehn Jahren zugunsten anderer Erwerbsformen verringert.
Onlineplattformen, Communities, Blogs: Das Web 2.0 eröffnet neue, schnellere Möglichkeiten der Kommunikation und Pflege sozialer Kontakte. Und ebenso für den Enthusiasmus, mit dem sich zunehmend auch breite Kreise der Bevölkerung im Netz betätigen, in Onlinenetzwerken oder Interessengemeinschaften mit anderen Menschen in Kontakt treten – auch wenn sie nicht unbedingt wissen, was sich hinter dem ominösen Web 2.0 verbirgt.



In dem technisch weiterentwickelten Internet der zweiten Generation steckt ein grosses Potenzial für Interaktion und aktives Mitwirken der Nutzer. Inhalte und Meinungen im World Wide Web werden nicht mehr nur von professionellen Medien verbreitet, sondern auch von unabhängigen Einzelpersonen erstellt, die sich wiederum miteinander vernetzen und Gemeinschaft suchen.


2. Loslösung von (Organisations)Bindungen und Streben nach Stabilität in den Beziehungen

Heute ist die Mehrheit der «Büroarbeiter» noch festangestellt, männlich, an ein Unternehmen gebunden, an Sicherheit orientiert und es herrscht Führung durch Kontrolle (organization man). Morgen arbeiten ebenso viele «Büroarbeiter» projektbezogen oder selbständig, sind männlich oder weiblich, an Arbeit und Wachstum gebunden (nicht an eine Organisation), an Selbstverwirklichung und Spass orientiert und Führung zeichnet sich aus durch «distributed leadership» (Kreativarbeiter).


Die Zukunftssicherung der Unternehmen geschieht durch Vielfalt – weiblicher, älter, bunter – als bisher. Temporäre Organisationsformen sind genauso selbstverständlich wie klassische Organisationen. Ob Hierarchie oder Netzwerk entscheidet die Anforderung des Jobs, das Qualifikationsniveau der Beteiligten und die Zeit (als eigenständige Dimension).




Drei Fragen führen zu der «richtigen» Organisationform:


- Wie lässt sich Wissensschöpfung so organisieren, dass sich alle Mitglieder der Gemeinschaft als Forscher engagieren können?

- Wie lässt sich Kompetenzentwicklung so organisieren, damit alle Mitglieder der Gemeinschaft als Coach und Berater für ihre Kollegen wirken können?

- Wie lässt sich Führung so organisieren, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft sich selbst einbringen und an der Führung beteiligt sein können?


3. Anonymisierung der (Arbeits)Beziehungen und Öffnen der eigenen Person

Communities of practice sind schon heute oft die Träger von Wissen und Erfahrung in den Organisationen, ohne dass sich die Mitglieder der community persönlich jemals getroffen haben. Sie schaffen Humankapital, das Innovationen fördert, die Prozesse beschleunigt und Vorteile in den Kernkompetenzen verschafft. Daneben gibt es viele Telearbeiter, die mit Laptop und Handy ortsunabhängig arbeiten, etwa auf einer Geschäftsreise, bei einem Kunden oder zu Hause. Sie loggen sich über einen Internetanschluss in das Firmennetz ein und sind Teil der betrieblichen Gemeinschaft, aber nur virtuell.



Von dieser flexiblen Gestaltung der Arbeit haben nicht nur die Mitarbeiter Vorteile, auch das Unternehmen profitiert davon. Zum einen sind Telearbeiter insgesamt zufriedener und damit motivierter, was sich in höherer Produktivität niederschlägt. Zum anderen können aufgrund der Möglichkeiten, die Telearbeit im Hinblick auf Work-Life-Balance bietet, gute Mitarbeiter für das Unternehmen gewonnen werden.




Die Internetplattform ist ein wichtiges Forum. Man kann darüber Menschen wieder finden, die man aus den Augen verloren hat, es ergeben sich indirekt Anknüpfungspunkte über die Kontakte der Mitglieder, die man zu seinem Netzwerk zählt. Das alles wäre im wirklichen Leben viel langwieriger.



Über Suchfunktionen kann man herausfinden, wer wen im Freundeskreisnetzwerk kennt, die Kontakte dann in einer Baumstruktur verwalten und mit den anderen kommunizieren. Über die Freunde der Freunde kommen ständig neue Bekanntschaften hinzu. Man sieht über die Baumstruktur auch, wer wen in der eigenen Stadt kennt. Dieser starke Ortsbezug erleichtert das Treffen im richtigen Leben.



Am direktesten funktioniert der Aufbau von Kontakten via Internet über soziale Online-Netzwerke wie zum Beispiel StudiVZ, Facebook, MySpace oder Lokalisten, die gerade bei der jungen Generation boomen. Was die globalen Freundeskreisnetzwerke vermögen, damit kann kein herkömmliches Adressbuch oder ein noch so grosser Bekanntenkreis im realen Leben mithalten.


4. Verlust normativer Regeln und der Wunsch nach Stabilität im täglichen (Arbeits)Geschehen

Legere Kleidung wie Jeans und Shirts sind am Arbeitsplatz auf dem Vormarsch zu Lasten des klassischen Anzuges und Kostüms. Fast die Hälfte der Deutschen bevorzugt eher lässige Kleidung. 44 Prozent der Männer und 57 Prozent der Frauen tragen sportliche Kleidung, ergab eine Umfrage unter 1000 Erwerbstätigen. Nur jeder zehnte Mann bevorzugt den Anzug, und nur 13 Prozent der Frauen wählten das Kostüm.



Eine Fünf-Tage-Woche mit festen Arbeitszeiten ist für deutsche Arbeitnehmer heute die Ausnahme. Nur knapp 13 Prozent der Beschäftigten arbeiten zwischen 35 und 42 Wochenstunden von Montag bis Freitag ohne Schichtdienst oder Gleitzeit. Damit hat sich zwischen 1989 und 2003 die Quote derjenigen halbiert, die «in klassischer Normalarbeitszeit», also von neun bis fünf Uhr, tätig sind.



Die festen Strukturen der Unternehmen verändern sich zu lösungsorientierten Formen, zu virtuellen Formen und Netzwerken. Diese Veränderungen wirken auch auf alle Geschäfts- und Führungsprozesse, z.B. von der Rekrutierung über die Personalentwicklung bis hin zur Entlohnung.


Ein gutes Beispiel für flexible Gestaltung der Arbeit ist die alternierende Telearbeit. Mitarbeiter können dabei einen Teil ihrer Aufgaben zu Hause erledigen. Sie sind durch eine entsprechende Ausstattung, d.h. durch Telefon und Computer mit Zugang zum Firmennetz, mit den Kollegen und ihrer Abteilung verbunden.


5. Der Wunsch nach Mobilität und das Beharren in der «Heimat»

Das Internet ist eine Erfindung, die langfristig Grundstrukturen für alle Menschen in Bewegung gebracht hat: Handel und Wandel, Sitten und Denkweisen, ja Familienstrukturen. Alles vernetzt sich, die Räume fliessen zusammen, alles wird Zeit. Globalisierung, Flexibilisierung, World Wide Web, rund um die Uhr eine Staubwolke von Flugzeugen um den Planeten – das ist Gegenwart. Alles ist virtuell, alles ist mobil geworden.


Aber dann kommt die Statistik und zeigt die Realität. Mehr als die Hälfte aller Deutschen, nämlich 54,7 Prozent, wohnen noch in ihrem Geburtsort oder in einem Nachbarort. Noch erstaunlicher sind die Details: 27,2 Prozent der Umfrageteilnehmer, die noch in ihrem Geburtsort wohnen, wohnen noch in ihrem Elternhaus. 6,3 Prozent der Befragten, die in ihrem Geburtsort wohnen, sind noch in derselben Strasse, in der ihr Elternhaus steht.



Also auch Heimat existiert noch und wird auch weiterhin existieren. Und umgekehrt darf man folgern: Mobilität ist zwar bestimmt kein Modetrend der Globalisierung (siehe Völkerwanderung). Wie bei jedem historischen Grosstrend wird ihre Reichweite und Tiefenwirkung überschätzt. Ohnehin dürfte sich bei dauerhaft fühlbar werdender Energieknappheit das Hin- und Hergeflitze auf dem Erdball deutlich reduzieren.


Fazit

Zur Sicherung des Unternehmenserfolgs sind dynamische Arbeitsstrukturen, die das «sowohl als auch» berücksichtigen, notwendig um auf sich ändernde Umfeldbedingungen schnell und flexibel reagieren zu können.
Ermöglicht durch die neue Informations- und Kommunikationstechnologie können immer mehr dezentrale und verteilte Strukturen geschaffen werden. Die Vernetzung der Prozesse über Standortgrenzen hinweg führt zu einer zunehmenden Mobilität der Mitarbeiter bei gleichzeitiger Nutzung von Telekommunikationsinfrastrukturen. So entstehen (virtuelle) Teams, deren Mitglieder nicht mehr an einem Ort arbeiten und einen Teil der Kommunikation computervermittelt abwickeln können.
Und es wird auch weiterhin das Sägewerk geben, dessen Mitarbeiter an Ihrem Wohnort schon in dritter Generation fünf Tage die Woche zu festen Arbeitszeiten mit Material aus der Region arbeiten. Nur die Säge wird ab und zu gewechselt.


Der Autor

Dieter Boch, Geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Arbeitsforschung und Organisationsberatung GmbH, iafob deutschland




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