Programmieren fördert die Problemlösungsfähigkeit

Wer ein Fahrzeug lenken kann, ist noch längst kein Mechaniker. Wer eine Waschmaschine zu bedienen vermag, ist alles andere als eine Maschinenbauerin. Wer hingegen mit einem Rechner umzugehen versteht, gilt gemeinhin als Informatikerin oder Informatiker. Die Informatik leider unter einem Zerrbild, das verhängnisvolle Auswirkungen hat. Für ein grundlegendes Verständnis der Informatik sind vertiefte Programmierkenntnisse unerlässlich.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2008/16

     

Allgemein bildende und Fachschulen versuchen, möglichst nachhaltiges Grundlagenwissen zu vermitteln. Das gilt auch für die Mathematik, die Natur- und die technischen Wissenschaften. Die vergleichsweise junge Informatik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ungestüm entwickelt. Dadurch ist der Eindruck eines äusserst schnelllebigen, sich ständig wandelnden Forschungszweigs entstanden. Das ist jedoch eine Täuschung. Wie in den übrigen Wissenschaften gibt es auch in der Informatik viele dauerhafte Erkenntnisse. Die Informatikausbildung sollte sich besonders an den Mittelschulen auf die allgemein bildenden Grundbegriffe ausrichten. Dazu eignet sich vor allem der Programmierunterricht.


Informatik ist nicht gleich das Beherrschen von Anwendungsprogrammen

Ursprünglich stand an unseren Gymnasien der Programmierunterricht im Mittelpunkt. Mit dem Aufkommen persönlicher Rechner mit grafischer Bedienoberfläche beschränkte sich der Informatikunterricht immer mehr auf das Einüben von kurzlebigen Handhabungsfertigkeiten. Wer mit Geräten und Programmen umgehen kann, wird landläufig für eine Informatikerin oder einen Informatiker gehalten. Im Unterschied dazu verwechselt niemand eine Radfahrerin mit einer Mechanikerin. Informatikanwendung wird allgemein – zu Unrecht – mit (Kern)Informatik gleich gesetzt. Dadurch erübrigt sich nach gängiger Meinung an den Mittelschulen ein eigenständiges Fach Informatik.




Die falsche Vorstellung von der Informatik hat verheerende Folgen: Obwohl die Informatik fast alle Lebensbereiche durchdringt, obwohl die Informatik (weitgehend verborgen) in zahllosen Geräten und Einrichtungen steckt (eingebettete Systeme) und wie die Mathematik oder die Physik eine Grundlagenwissenschaft ist, werden an der Volks- und der Mittelschule sowie an der Berufsfachschule überwiegend Anwendungskenntnisse beigebracht. Nur die wenigsten Abgängerinnen und Abgänger kennen die Hintergründe und Zusammenhänge der Informatik. Erst ab dem Schuljahr 2008/2009 darf an Schweizer Gymnasien das Ergänzungsfach Informatik angeboten werden.


Rückkehr zum Programmierunterricht an Gymnasien

Informatikanwendung und Informatikgrundlagen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sinnvoller ist ein Mittelweg: Je nach Schulstufe und Vorwissen soll der Umgang mit dem Rechner oder das Programmieren Gegenstand des Unterrichts bilden. Auf der Primarstufe und der Sekundarstufe I geht es eher um die Beherrschung der Informatikmittel, auf der Sekundarstufe II müsste das Schwergewicht auf dem Programmieren liegen.



Ein Informatikunterricht, der bloss auf den Erwerb oberflächlicher Handhabungsfertigkeiten zugeschnitten ist, verkümmert. Er verhindert tiefere Einsichten in die Grundzüge der Informatik. Es ist höchste Zeit, diese Fehlentwicklung rückgängig zu machen. Sie hat zu einem schwer wiegenden Schwund bei den Informatikstudierenden an Hochschulen und zu einem Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften geführt.


Algorithmus und Programm sind Grundbegriffe der Informatik

Zu den wegweisenden Begriffen der Informatik gehören der Algorithmus (Lösungsverfahren) und das Programm. Das Programmieren taugt vortrefflich, um die Bedeutung dieser Begriffe zu erkennen. Umfassende Programmierkenntnisse sind Voraussetzung für ein vertieftes Verständnis der Informatik.


Programmiersprachen sind künstliche, formale Sprachen. Sie sind ein Hilfsmittel, um bekannte Lösungsverfahren in eine für die Maschine verständliche Sprache umzusetzen. Überdies sind sie ein vorzügliches Werkzeug für die Suche nach neuen Lösungswegen. Weil die Maschine nur eindeutige, genaue Anweisungen verarbeiten kann, zwingt sie zu einer exakten Formulierung.


Schrittweise Problemlösung dank Modulen

Grosse Brocken lassen sich besser verdauen, wenn man sie in mehrere Stücke (Portionen) schneidet. Gleichermassen können schwierige Probleme eher gelöst werden, wenn sie in kleinere Einheiten gegliedert werden. Umfangreiche Programme werden in zahlreiche Bestandteile zerlegt. Diese Bausteine, auch Module genannt, sind leichter durchschaubar. Sie vereinfachen zudem die Ortung von Fehlern erheblich. Die Abläufe sind besser nachvollziehbar.


Aufruf an die Bildungspolitik

Vielen Lehrpersonen ist der derzeitige missliche Zustand der Informatikausbildung seit Jahren ein Dorn im Auge. Die Hochschulen beklagen sich über den ungenügenden Nachwuchs. Der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften schadet der Wirtschaft. Die Bildungsbehörden und die Schulleitungen werden hiermit aufgerufen, möglichst rasch einen Informatikunterricht einzuführen, der der Bedeutung des Fachs entspricht und seinen Namen verdient. Die Schaffung des (freiwilligen) gym-nasialen Ergänzungsfachs Informatik ist zwar ein erfreulicher erster Schritt, reicht aber bei weitem nicht aus. Bei der Gesamtrevision des Maturitätsanerkennungsreglements sollte die Informatik zu einem Schwerpunkt- bzw. Grundlagenfach aufgewertet werden. Entscheidend ist auch die Aus- und Weiterbildung von Informatiklehrkräften. Es besteht also ein dringender Handlungsbedarf.


Der Autor

Herbert Bruderer ist Geschäftsführer des Ausbildungs- und Beratungszentrums für Informatikunterricht der ETH Zürich. Dieser Beitrag baut auf dem «Plädoyer für den Programmierunterricht» von Jürg Gutknecht und Juraj Hromkovic auf. Das Plädoyer ist auf dem Bildungsportal EducETH unter http://www.educ.ethz.ch/bildungimbrennpunkt/index abrufbar.




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