VoIP - ein Hype wird erwachsen
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/21
In den neunziger Jahren wurde die erste Generation von VoIP-fähigen Endgeräten und Telefonzentralen entwickelt. In der Praxis erwies sie sich mehr oder weniger als untauglich. Die Sprachverbindungen waren von schlechter Qualität und die Störungsanfälligkeit legendär, die Geräte gross und schwierig zu bedienen. Zudem war die Software mit Fehlern übersäht. Die teilweise veralteten Netzwerke und für Telefonie ungeeigneten Netzwerktopologien und -technologien trugen dazu bei, dass VoIP mancherorts als bandbreitenhungriges Monster zurückgestellt wurde.
In den letzten beiden Jahren haben sich allerdings einige Lösungen etabliert, welche, richtig eingesetzt, einen grossen Nutzen bei reduzierten Betriebskosten entfalten können. Die klassische Telefonzentrale (PBX, Private Branch Exchange) besteht aus einem monolithischen Kern mit der Switching Matrix, Trunk-Modulen zur Anbindung an andere PBX-Zentralen (und das öffentliche Telefonnetz) und einer Anzahl von Linecards (Anschlussmodulen für Endgeräte). Die logische Erweiterung einer solchen PBX in Richtung VoIP sind nun zusätzliche Linecards mit LAN-Anschlüssen. So entsteht eine hybride Anlage, welche Altes und Neues verbindet, im Kern aber nach wie vor den Prinzipien der geschalteten Telefonverbindungen gehorcht. Entsprechende Systeme werden heute von allen PBX-Anbietern vertrieben und haben in manchen längerfristigen Migrationsszenarien eine zentrale Stellung: Durch eine Kombination von alt und neu lassen sich die bestehenden Investitionen schützen (PBX), während Neuinvestitionen (Netzwerk, Endgeräte) in der zukunftsträchtigeren Technologie getätigt werden.
«Richtige» IP-PBX sind üblicherweise als Software für einen Server oder als Appliance (vorkonfigurierter Server) verfügbar. Die Verbindung zum Telefonnetzwerk erfolgt über eingebaute ISDN-Adapter (o.ä.), die Verbindung zum LAN über die eingebauten Ethernetkarten. Die Konfiguration wird meistens über ein einfaches Web-Interface durchgeführt, so dass keine Administrationssoftware installiert werden muss. Der Funktionsumfang moderner IP-PBX steht demjenigen der klassischen Geräte um nichts nach. IP-PBX können zentral beim Provider, zentral beim Kunden oder dezentral beim Kunden installiert werden. Je nach Benutzung der Telefondienste entsteht ein individuelles Verkehrsaufkommen, und die entsprechenden Leitungen oder Weitverkehrsnetze müssen darauf ausgelegt werden (Kostenoptimierung).
VoIP bietet als Endgeräte entweder sogenannte Softphones (Software für PC/Laptop) und Hardphones («normale» Telefone). Im Vergleich zur klassischen Telefonie ist die Vielfalt der verfügbaren Endgeräte (z.B. Tischgerät mit extragrossem Display, spritzwasserfest für Wandmontage usw.) und Zusatzgeräte (z.B. Beistelltastatur, Piepser) bei den IP-Endgeräten bei weitem noch nicht erreicht. Diese Zusatzfunktionen sind vor allem bei Unternehmen aus Industrie und Gewerbe sehr beliebt und schränken heute die Ausbreitung von VoIP in diesen Branchen drastisch ein. Bei Dienstleistern wiegen diese Nachteile kaum.
Beim zentralen CTI-System (Computer Telephony Integration) werden sämtliche Anrufe in der Regel durch einen Gateway geschleust und die Endgeräte mittels IP-Nummern adressiert. Die Endgeräte haben die Ausprägung Soft- oder Hardphones. Dabei müssen die bestehenden Zuleitungen zum Festnetz nicht neu aufgebaut werden; vielmehr sind entsprechende Adapter für die Medienkonvertierung einzusetzen.
Die IP-Telefonzentrale benötigt auf der einen Seite einen LAN-Anschluss (Verbindung für alle VoIP-Telefone) und auf der anderen Seite den Gateway zum Telefonnetz (im Gegensatz zur klassischen PBX, wo für jedes angeschlossene Telefon 2 bis 4 Kupferfasern zugeführt werden). Da diese Konzentrationsfunktion entfällt, muss die IP-PBX nicht zwingend am entsprechenden Standort stehen, sondern kann problemlos auch in der Firmenzentrale, beim ISP (Internet Service Provider) oder gar bei einer Drittfirma stehen. Zwingende Bedingung dafür ist, dass die Qualität der Netzwerkverbindung ausreichend ist.
Im Unterschied zu gewöhnlichen Internet-Services haben die Datenpakete von VoIP starke Anforderungen an die Laufzeit. Wenn es mehr als 100 Millisekunden dauert, bis diese vom Sender zum Empfänger gelangt sind, nimmt die Audioqualität rapide ab.
Bei der Einführung von VoIP muss deshalb eine angemessene Qualität (vor allem die Latenz der Datenpakete) der Netzwerkverbindungen sichergestellt werden:
In sehr kleinen Netzen ist die Infrastruktur heute häufig so dimensioniert, dass ohne grosse Änderungen am Netzwerk VoIP aufgeschaltet werden kann. Die gewöhnlichen Büro-PCs und -Applikationen sind hier nicht leistungsfähig genug, die ganze Bandbreite auszunützen.
In standortübergreifenden Netzwerken (MAN/WAN) sind die Engpässe üblicherweise zwischen den Standorten zu suchen: Die nach wie vor hohen Kosten dieser Leitungen haben zu knapper Auslegung ohne Reserve geführt. Hier ist eine Priorisierung des VoIP-Verkehrs notwendig.
Bei Weitverkehrsnetzen mit Frame-Relay ist das ganze Netz vor der Einführung von VoIP neu zu überdenken: Die Datenflüsse sind bei VoIP nicht hauptsächlich zwischen Client und Server, sondern zwischen Client und Client! Häufig ist ein Technologiewechsel zu MPLS (Multi Protocol Label Switching) angebracht.
Bei sehr grossen und über Jahre gewachsenen Netzen führt kein Weg an einer systematischen Verkehrsplanung vorbei.
MPLS-Netzwerke eignen sich hervorragend für das MAN/WAN-Routing von VoIP bei einer Vielzahl von Standorten. Es wird empfohlen, Serviceklassen zu definieren und zu priorisieren.
Die unterbrechungsfreie Stromversorgung muss unter Umständen für die IP-Telefonie teilweise bis in die Etagenverteiler hochgezogen werden, damit bei einem Stromausfall die Telefone etwa für Notfallnummern noch funktionieren.
Um den Kabelsalat auf dem Tisch der Mitarbeiter nicht weiter auszuweiten, empfiehlt es sich, die VoIP-Telefone mit Power-over-Ethernet (PoE) zu speisen. Entsprechende Switches sind heute von fast allen Herstellern erhältlich.
Bestehende VPN-Lösungen (Virtual Private Network) für mobile Benutzer und Heimarbeiter lassen sich meistens auch für VoIP verwenden. Bedingung ist natürlich beidseitig eine angemessene Bandbreite (>200 kbps in beide Richtungen).
Es empfiehlt sich generell mit QoS-Attributen (Quality of Service) zu arbeiten Die meisten neueren Router und Switches unterstützen dies, leider aber noch nicht in allen Netzen: Günstigere ISPs bieten kein QoS an. Häufig «geht es» allerdings trotzdem, was viele Mitarbeiter, welche von unterwegs auf die Infrastruktur zugreifen, zu schätzen wissen. Aber diese Zugriffe sind nur möglich, wenn entweder die Leitung massiv überdimensioniert ist und/oder nur eine sehr kleine Anzahl VoIP-Verbindungen gleichzeitig über eine Leitung abgewickelt wird. Bei grösseren VoIP-Vorhaben über Leitungen von ISPs ist QoS wohl der einzige Weg zu einer langfristig stabilen Lösung.
Die benötigte Bandbreite hängt stark vom verwendeten Kompressionsalgorithmus ab. PCM-Codecs (Pulsecodemodulation), wie sie beim ISDN verwendet werden, brauchen pro Verbindung circa 64 kbps, wo hingegen modernere Codecs nur circa 20 kbps bei guter Qualität benötigen. Ganz aggressive Algorithmen kommen unter 10 kbps, werden jedoch von den Benutzern schlecht akzeptiert, da sie bei Nicht-Sprach-Signalen komische Artefakte produzieren. Aus Kostengründen empfiehlt sich eine Konfiguration mit hohem Kompressionsgrad.
Über die Sicherheit von VoIP wurde wohl am meisten geschrieben. Im folgenden einige Überlegungen zu den häufigsten beanstandeten Punkten:
«VoIP ist inhärent unsicher, da die die Sprache unverschlüsselt verschickt wird.» Es ist korrekt, dass die meisten Implementierungen heute keine Verschlüsselung verwenden. Dies stimmt aber auch für die gewöhnlichen Telefonanlagen. Weder analoge noch ISDN-Telefone verschlüsseln, und auch bei DECT-Geräten (Digital European Cordless Telephone) ist der Default-Schlüssel häufig anzutreffen. Es stellt sich bei der firmeninternen Benutzung allerdings die Frage, ob es diese Verschlüsselung wirklich braucht: Der Datenverkehr der anderen Office-Applikationen (z.B. Word-Dokumente) werden intern ebenfalls unverschlüsselt versendet.
«Wenn die Telefonie so günstig wird wie E-Mail, dann werden wir auch hier mit unerwünschter Werbung (Spit) überflutet.» Erfahrungen mit Spam zeigen, dass diese Aussage richtig ist. Dies hat allerdings sowohl mit dem Pricing als auch mit der Anonymität zu tun. Diese Problematik ist für die firmeninterne Benutzung kein Thema, da der Anrufer von extern das normale Telefonnetz verwendet.
«Die Verfügbarkeit von 99,9999 Prozent, wie sie bei normalen Telefonzentralen erreicht wird, kann von einer IP-PBX nicht erreicht werden.» Diese Aussage ist genau so richtig, wie dies auch die Swisscom und andere Telekommunikationsanbieter nicht garantieren können. Zudem wäre der Aufwand für eine solche Implementierung erheblich. Aber: Welche Firma braucht schon eine Verfügbarkeit, welche pro Jahr eine kumulierte Ausfallzeit von weniger als einer Minute zulässt?
«Bei einem Stromausfall geht das IP-Telefon auch nicht mehr.» Bei der IP-PBX-Telefonie muss berücksichtigt werden, dass nicht nur der Server, sondern auch der Gateway, die Switches und eventuell die entsprechenden Endgeräte mit jenem Notstrom versorgt werden, der für PBX bereits üblich ist.
«Wenn ich in meinem VoIP-Netz 112 wähle, dann wird nicht die nächste Notfallzentrale alarmiert, sondern diejenige bei der Firmenzentrale.» Bei nicht lokalen IP-PBX muss das Routing von Notfallnummern speziell konfiguriert werden, so dass diese auch bei den Aussenstellen ohne eigene Telefonzentrale richtig funktionieren. Bewegliche Arbeitsplätze bleiben dabei ein ungelöstes
Problem.
· In den meisten Firmen gibt es heute mindestens zwei elektrische Netzwerke mit ähnlicher sternförmiger Struktur: Das LAN und die Telefonie. Zu jedem Arbeitsplatz führen zwei getrennte Leitungen. Durch VoIP wird nur noch ein Netz für beide Funktionen nötig, womit die redundante Erschliessung respektive Ressourcenbelegung entfällt.
Die organisatorische Trennung von Telefonie und IT führt zu unnötig aufwendigen Abläufen zum Beispiel bei Mitarbeiterwechseln. VoIP konsolidiert die beiden Welten auch organisatorisch.
Eine IP-PBX muss nicht beim Kunden stehen. Outsourcing ist somit wesentlich einfacher möglich. Der Dienstleister kann mit einer IP-PBX eine Vielzahl von Kunden bedienen und somit seine Leistung günstiger anbieten.
VoIP kann als Dienstleistung eingekauft werden. Ist der Anbieter gleichzeitig der ISP, dann sind alle Verbindungen nach aussen aus einer Hand.
Reisende Mitarbeiter haben ihr Telefon auf dem Laptop und sind «online», sobald ihr PC eine Verbindung mit dem internen Netz hat. Umständliches Umleiten der Anrufe entfällt.
Telefonbeantworter und ähnliche Dienste lassen sich in Outlook integrieren und sind somit einfacher bedienbar.
An einigen Arbeitsplätzen kann das (relativ teure) Multifunktionstelefon durch ein Softphone auf dem PC und einen USB-Hörer ersetzt werden. Insbesondere für Call-Center, Support und mobile Mitarbeiter ist das ein Segen.
Für Privatbenutzer erlauben Dienste wie Skype günstiges Telefonieren in alle Welt. Dieser Kostendruck reduziert auf lange Sicht die Kosten für das Telefonieren für alle.
Die einfachere Integration von Softphones in CRM-Systeme reduziert die Kosten für die Anbindung und öffnet neue Wege.
Kleine Standorte lassen sich einfacher und günstiger an eine IP-PBX aufschalten.
Stefan Menzl, Dipl. El.-Ing. ETH, ist Partner und Mitglied der Geschäftsleitung der BSG Unternehmensberatung, St. Gallen. Seine Hauptgebiete sind technische Informatik, ITSEC und Netzwerke. Sie erreichen ihn unter stm@bsg.ch.