Freie Sicht auf die Unternehmensstrukturen
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/14
In den letzten Jahren sind sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis zahlreiche Ansätze zur Modellierung von Unternehmensarchitekturen (Enterprise Architecture) auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen entwickelt worden. Diese verschiedenen Modellierungsebenen und Sichten auf die Unternehmung reflektieren die allgemein bekannten kulturellen Unterschiede zwischen Mitarbeitenden aus Fachabteilungen und Mitarbeitenden aus dem IT-Bereich. Umfassendere Ansätze verwenden in der Regel einen Bezugsrahmen (Framework) oder eine Hierarchie von Modellierungsebenen, um die verschiedenen Sichten auf das Unternehmen zu strukturieren. Sie beschränken sich allerdings oftmals auf abstrakte Strukturen und Zusammenhänge, das heisst, sie berücksichtigen nicht alle Modellierungsebenen und/oder sie bieten unterschiedliche Sichten auf das Unternehmen, ohne eine Vorgehensweise und konkrete Modellierungssprachen und -techniken zu spezifizieren. Viele dieser Ansätze besitzen zudem kein oder ein nur wenig elaboriertes Metamodell, um die einzelnen Modelle durchgängig miteinander zu integrieren. Ausserdem sind viele Ansätze auf die produktivere Softwareentwicklung fokussiert.
Für die Anwendung beziehungsweise den praktischen Einsatz eines bestimmten Ansatzes ist entscheidend, dass Werkzeuge verfügbar sind, welche die Modellierung, Speicherung, Darstellung und Weiterentwicklung der verschiedenen Modelle der Unternehmensarchitektur ermöglichen. Da die Methoden zur Gestaltung der Unternehmensarchitektur immer umfassender werden, wird zunehmend auch nach Tools verlangt, welche die durchgängige Abbildung und Analyse von Geschäftsstrategien, Organisationsstrukturen, Geschäftsprozessen und Applikationen der Unternehmung unterstützen.
Im Vordergrund steht dabei vor allem die Abbildung der Gesamtzusammenhänge zwischen den einzelnen Gestaltungsebenen, die in den meisten Fällen ein nur schwer zu erkennendes und zu verstehendes System darstellen. Werden diese Zusammenhänge nicht erkannt und verstanden, so ist die Änderung des Systems immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, da die Auswirkungen nicht abgeschätzt werden können. Viele Unternehmen verwenden bereits einfache Visualisierungswerkzeuge, wie zum Beispiel Microsoft Visio oder Powerpoint, um ihre Architektur zu dokumentieren. Allerdings kann dadurch die Konsistenz und Redundanzfreiheit in den verschiedenen Dokumenten schwerlich gewahrt werden.
Wenn beispielsweise ein Geschäftsprozess oder eine Applikation in mehreren Diagrammen auftaucht, dann müssen bei einer Änderung des Geschäftsprozesses beziehungsweise der Applikation alle Diagramme aktualisiert werden. Dies birgt die Gefahr von Inkonsistenzen. Ausserdem wird auf diese Weise die Wiederverwendung von Modellelementen in verschiedenen Modellierungs- beziehungsweise Visualisierungskontexten nicht unterstützt.
Werkzeuge zur Modellierung der Unternehmensarchitektur (Enterprise Architecture Tools) adressieren dieses Problem, indem sie die Speicherung der relevanten Informationen in strukturierter Form ermöglichen und in verschiedenen Darstellungsformen bereitstellen. Ein EA-Tool besteht in der Regel aus drei wesentlichen Komponenten:
Datenbank zur Speicherung aller Einzelinformationen der Geschäftsstrategie, der Geschäftsprozesse, der Organisation und der sie unterstützenden Applikationen.
Metamodell zur Definition und Strukturierung der relevanten Informationen, die in der Datenbank gespeichert werden sollen.
Oberfläche zur Modellierung und Präsentation der gespeicherten Informationen in grafischer und textueller Form.
Im Kompetenzzentrum «Bankenarchitekturen im Informationszeitalter» des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen (CC BAI) wurde in Zusammenarbeit mit Partnerunternehmen aus dem Finanzdienstleistungssektor eine Methode zur Gestaltung der Unternehmensarchitektur entsprechend den Grundsätzen des Business Engineering entwickelt.
Die Methode umfasst auf jeder der drei Gestaltungsebenen «Geschäftsstrategie», «Organisation» und «Informationssystem» Vorgehensmodelle, Aktivitäten und Spezifikationstechniken. Um die Zusammenhänge zwischen den drei Ebenen abzubilden, basiert die Methode auf einem ebenenübergreifenden Metamodell. Das Ziel der Methode liegt in einer breiten Darstellung der Schlüsselelemente eines Unternehmens ohne
Fokus auf softwareentwicklungsrelevante Aspekte. Das ebenenübergreifende Metamodell dient der konsistenten Abbildung aller Artefakte, die für Entscheidungen im Schnittbereich von Fachbereich und IT relevant sind (Leistungssystem, Zielsystem, Prozesse, Organisationseinheiten und Applikationen), sowie deren Zusammenhänge.
Da es nicht möglich ist, alle Artefakte in einem Totalmodell abzubilden und ausreichend zu pflegen, wurde bei der Entwicklung der Methode versucht, einen sinnvollen Aggregationsgrad zu erreichen. Um die Umsetzbarkeit und Anwendbarkeit der Methode zu illustrieren, wurde diese in dem Metamodellierungswerkzeug ADONIS der Firma BOC Information Objects Consulting abgebildet, welches auf einem weitgehend methodenunabhängigen Metamodellierungsansatz basiert und somit eine leichte Anpassung der zugrundeliegenden Metamodelle ermöglicht.
Der daraus entstandene Software-Prototyp liegt nun in einer ersten Version (siehe Abbildung oben) vor und kann in der Unternehmenspraxis zu Testzwecken für einen beschränkten Zeitraum kostenlos genutzt werden – unter der Voraussetzung, dass der Prototyp konkret in einem EA-Projekt verwendet wird und die Erkenntnisse aus dem Einsatz für die Weiterentwicklung des Prototyps sowie für unsere wissenschaftliche Arbeit genutzt werden können.
Im Kompetenzzentrum Integration Factory (CC IF) entwickelt das Institut für Wirtschaftsinformatik zusammen mit sechs Unternehmen (Axpo, Deutsche Leasing, Postfinance, Real-Time Center Bern (RTC), Winterthur Versicherungen und Zürcher Kantonalbank) Modelle und Methoden, die für das Architekturmanagement und die Applikationsintegration eingesetzt werden können. In diesem Zusammenhang werden auch die Ergebnisse des Kompetenzzentrums BAI zur Unternehmensmodellierung weiterentwickelt. Der aktuelle Stand der Modellierungsmethode und ihre Umsetzung in ein Werkzeug kann auf dem 18. Anwenderforum St. Gallen (http://forum. iwi.unisg.ch/) eingesehen werden, das darüber hinaus fünf Praxisvorträgen zur Applikationsintegration und Enterprise Architecture Raum gibt.
Christian Braun ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsinformatik (IWI) an der Universität St. Gallen; Robert Winter ist Professor und Direktor des IWI.