Editorial

Vom Lebensberuf zur Weiterbildungsgesellschaft


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/11

     

Die Schweiz ist zu Recht stolz auf ihre grosse Zahl gut ausgebildeter Berufsleute in vielen Fachgebieten und auf verschiedenen Ausbildungsstufen. Sehr viele Menschen in unserem Land haben einen Beruf und nicht bloss einen Job. Allerdings kann die lebenslange Ausübung eines einmal erlernten Berufs nicht garantiert werden; sie ist oft nicht einmal mehr der Normalfall. Entsprechend wichtiger werden Umschulungen und Weiterbildungen.
Aber sind wir damit bereits zu einer echten
Weiterbildungsgesellschaft geworden? Ich fürchte: Nein! Noch immer bestimmt häufig allein der Erstberuf die «berufliche Heimat», und zwar sowohl vom Fachgebiet wie auch von der anerkannten Ausbildungsstufe her. Manche, die im Zweit- (oder gar Dritt-)beruf viel Spezialwissen erworben haben, werden unsicher, wenn sie in diesem neuen Umfeld auf Grundwissen angesprochen werden, welches heutige Lehrlinge oder Studierende aus ihrer Fachausbildung direkt mitbringen. Berufliche Unsicherheit wird aber existentiell gefährlich, wenn es in einem Betrieb zu Abbau und Entlassungen kommt. Blosse Weiterbildungsabsichten kommen dann zu spät.





In der Informatik – einem Hightech-Gebiet – sind wir uns bewusst, dass das Fachwissen ständig spürbar zunimmt; der technische Fortschritt wird geradezu als hektisch empfunden. Nicht wenige resignieren vor dieser Tatsache und verzichten ganz auf systematische Weiterbildung, «weil ja doch alles in Kürze überholt ist». Diese Begründung ist schlicht falsch, auch in der schnelllebigen Informatik. Wir müssen nämlich zwei Arten von Fachwissen unterscheiden, Produktwissen und Konzeptwissen:


• Das Produktwissen bezieht sich in der Informatik auf ganz bestimmte Geräte oder Programme und ist meist kurzlebig (Halbwertszeit zwei Jahre oder weniger).






• Das Konzeptwissen betrifft grundlegende Strukturen und Methoden und ist auch in der Informatik langlebig (Halbwertszeit 10 Jahre und mehr). Es erleichtert den Erwerb von Produktwissen.
Wer sein berufliches Fachwissen ausschliesslich auf Produktwissen ausrichtet («System XXX, Version YY»), mag für den Moment ein gesuchter Spezialist sein, ist aber ohne vertieftes Konzeptwissen schlecht auf jeden Versionen- oder gar Systemwechsel vorbereitet.
Der Erhalt der «Arbeitsmarktfähigkeit» – ein neuer, aber wichtig gewordener Begriff – erfordert somit eine ausgewogene Weiterbildung. Dazu sind zwei Schritte nötig:


• Die Diagnose: Das «Verfalldatum» unseres Fachwissens beachten! Aus unserer Erstausbildung nehmen wir Fachwissen mit ganz unterschiedlichem Langzeitwert mit.


• Die Therapie: Zur Erhaltung der Arbeitsmarktfähigkeit müssen wir durch Weiterbildung sowohl Produktwissen wie auch Konzeptwissen auf Dauer genügend hoch halten.
In der Schweiz wird eine gute Erstausbildung anerkannt; wir sind eine typische «Erstausbildungsgesellschaft». Für die Weiterbildung fehlt aber ein entsprechender gesellschaftlicher Druck noch weitgehend. Auch fehlen aussagekräftige Leistungsnachweise für den «kleinmaschigen» Weiterbildungsbereich (Kurse, Projektarbeit usw.) und deren Propagierung. Hier ist noch Handlungsbedarf für Verbände und Politiker!




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