E-Learning: Roberto Brazzola vs. Willi Vollenweider


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2003/07

     

E-Learning sei nichts weniger als die künftige Form der Wissensvermittlung, sagen die Fans. Effizienter, flexibler und billiger soll das Lernen am Computer sein, heisst es. Doch der Durchbruch lässt auf sich warten. Warum? Kritiker orten das Problem bei den Inhalten und prangern konzeptionelle Mängel an.


Die Kostenfrage


Pro: Es ist klar, gute Inhalte haben ihren Preis. Entscheidend aber ist, dass die Kosten für die Inhaltsentwicklung in Relation gebracht werden mit der Anzahl der Lernenden und den Kosten, die durch andere Lernmethoden verursacht würden. Dazu kommt die Effizienzsteigerung, die mit diesen Inhalten erreicht werden kann. Die reinen Entwicklungskosten zu betrachten, stellt kein geeignetes Mittel zur Beurteilung dar. Ausserdem werden E-Learning-Inhalte längst mit Inhalten für den Präsenzunterricht vermischt, was die isolierte Betrachtung der Entwicklungskosten für E-Learning-Inhalte als nicht sinnvoll erscheinen lässt.




Kontra: Vieles, was unter dem Begriff E-Learning heute angeboten wird, befindet sich auf dem Stand von Büchern - man liest einfach ab Bildschirm statt ab Papier. Da nimmt man besser gleich wieder das altbewährte Buch zur Hand. Gutes E-Learning aber ist firmenspezifisch, spielerisch, interaktiv und adaptiv. Dadurch ist der Entwicklungsaufwand entsprechend hoch. Die auf den einzelnen Lernenden entfallenden Kosten hängen stark von deren Anzahl ab. E-Learning rechnet sich deshalb für typisch schweizerische Verhältnisse mit einigen Dutzend bis einigen hundert Lernenden nur in besonderen Fällen. Dem Management wird oft vorgegaukelt, E-Learning sei erstens billig und zweitens würden die Leute dann in ihrer Freizeit lernen. Das öffentliche Bildungswesen lässt sich der Steuerzahler viel Geld kosten: Wenn E-Learning tatsächlich gut und kostengünstiger wäre, müsste der Staat die meisten Schulhäuser abreissen oder einem anderen Verwendungszweck zuführen (Begegnungsstätten?).


Die Interaktivitätsfrage


Pro: Niemand behauptet, dass es in Zukunft möglich sein wird, Klassenraumunterricht mit E-Learning zu ersetzen. Der Trend geht heute klar in Richtung eines Mixes von E-Learning und Präsenzunterricht. Dabei wird idealerweise Basiswissen und Theorie mittels E-Learning vermittelt. Damit wird das Wissen der Lernenden, die später an Klassenraumkursen teilnehmen, auf den gleichen Stand gebracht. Das hat den erheblichen Vorteil, dass der Präsenzunterricht effizienter und kürzer gestaltet werden kann.




Kontra: Ein guter Lehrer ist besser als das beste E-Learning-System: Er vermittelt neben "Wissen" auch "Erfahrung" und weiss, was für den Lernenden wichtig ist und was nicht. Der Lernprozess beinhaltet, dass der Lernende Fehler macht und aus diesen Fehlern neue Erkenntnisse gewinnt, auch Erfahrung. Das Kind glaubt erst dann, dass die Kochplatte heiss ist, wenn es sich die Finger verbrannt hat. Ein Lehrer erkennt auch, wenn die Lernenden müde sind und wann sie motiviert werden müssen. Ein praxiserprobter Lehrer weiss, dass es "nichts gibt, das es nicht gibt" - ein E-Learning-System nicht. Ein Lehrer ist immer auch ein Vorbild, eine Maschine nie.


Die Selbstdisziplinsfrage


Pro: E-Learning ist ähnlich wie Fernunterricht selbstverantwortliches, selbstgesteuertes Lernen. Es kann bei dieser Art des Lernens enorm hilfreich sein, einer Lerngruppe anzugehören - besonders, wenn es sich nicht um eine einzelne Lernmassnahme handelt, sondern um eine Ausbildung über längere Zeit. Die entstehende Gruppendynamik kann dem Einzelnen helfen, erfolgreicher zu lernen. Aus diesem Grund bieten heutige Lernsysteme synchrone und asynchrone Kommunikationsmittel an, angefangen bei einfachem E-Mail über Chat oder Foren bis hin zu virtuellen Klassenzimmern mit Video- und Audio-Unterstützung.




Kontra: Wie das klassische autodidaktische Lernen mit einem Buch setzt E-Learning entweder Selbstdisziplin oder Zwang voraus. Es kommt auch sehr darauf an, ob der Lernende gewohnt ist, zu lernen (z.B. Studenten) oder nicht (z.B. Erwerbstätige). Im letzteren Fall muss irgendein Zwang ausgeübt werden, damit die Lerneinheiten absolviert werden. Die bei traditionellen Lernformen vorhandene Gruppendynamik in einer Klasse (im gleichen Raum) kann mit elektronischen Mitteln nicht nachgebildet werden.


Die Qualitätsfrage



Pro: Die Qualität von E-Learning und letztlich der Erfolg von entsprechenden Angeboten hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es ist klar, dass die Lerninhalte ansprechend und die verwendeten Lernsysteme einfach zu bedienen sein müssen. Wenn E-Learning-Systeme scheitern, dann meist, weil die Lernenden zuwenig gut in die Kurse eingeführt wurden. Deshalb sind begleitende Massnahmen wie die Unterstützung bei der Einführung so wichtig. Ebenfalls enorm wichtig ist die Schaffung eines attraktiven Lernumfelds. E-Learning stellt in vielen Fällen eine einschneidende Veränderung der Lernkultur dar - und dieser Tatsache muss man gerecht werden.




Kontra: In vielen Fällen setze ich das Verteilen von E-Learning-Konserven mit dem Verteilen von Büchern gleich. Die Form ist einfach etwas moderner oder "sexier". Reines E-Learning bringt nur selten die gewünschten Resultate. Deshalb wird heute in vielen Fällen eine Mischform aus traditionellen Lernformen (darunter Frontalunterricht, Workshops, Kick-Off-Meetings oder Übungsprojekte) und E-Learning/Selbststudium gegenüber dem reinen E-Learning bevorzugt.


Die Flexibilitätsfrage


Pro: Eine der bestechendsten Eigenschaften von E-Learning ist die Flexibilität. Nicht nur zeitlich sind Lernende nicht an Vorgaben gebunden, sondern auch räumlich und inhaltlich. In naher Zukunft werden Funknetze an verschiedensten Orten wie Bahnhöfen und Flughäfen zur Verfügung stehen, und es wird möglich sein, jederzeit Lerninhalte zu beziehen, mit Lerngruppen in Verbindung zu treten oder bedarfsgerechte Informationen und Lerninhalte zu erhalten. E-Learning sollte eigentlich in F-Learning umgetauft werden, was für flexibles Learning stehen würde.




Kontra: Die Orts- und Zeit-Unabhängigkeit kommt sicher in einigen Fällen zum Tragen. Im Klartext heisst dies für Arbeitnehmende: Büffeln während der Freizeit, also zu Hause. Ein fixer Stundenplan für zumindest einen Teil der Lernveranstaltungen schadet aber gar nichts - ganz im Gegenteil: Fixpunkte (Milestones) motivieren zu höheren Leistungen. Ein Lernplan, den man sich selbst auferlegt hat, wird oft nur dann wirklich eingehalten, wenn die Kontrolle des Zeitplans extern ist. Denn: Mit der Selbstdisziplin mangelt es manchmal eben doch ein bisschen.

Die Kontrahenten

Pro: Roberto Brazzola ist Managing Consultant E-Learning bei IBM Business Consulting Services

IBM Business Consulting Services

E-Learning-Plattform: IBM Global Campus

Eingeführt vor: 5 Jahren

Teilnehmer: zugänglich für alle 300'000 IBM-Mitarbeiter






Kontra: Willi Vollenweider ist Gründer und Geschäftsführer von Digicomp

Digicomp

Anzahl Kursthemen: 500

Anzahl Lehrgangsthemen: 15

Anzahl Kurse pro Jahr: 5000

Anzahl Teilnehmer pro Jahr: 20'000




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