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Telefonieren mit dem PC

Das bringt's - das kostet's - so geht's.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2003/03

     

Die Anbieter versprachen das Blaue vom Himmel. Telefonie über IP-Datennetze (Voice over IP) sei günstiger, besser und erst noch problemlos. Die Realität sah anders aus: Die Anwendungen waren instabil und verursachten hohe Initialkosten. Man sprach von einem Flop.



Das Beispiel der St. Galler Softwareschmiede Abacus verdeutlicht dies eindrücklich. Als man vor drei Jahren neue Geschäftsräumlichkeiten bezog, beschloss man, von Anfang an eine VoIP-Lösung zu implementieren. "Da wir nur ein Datennetzwerk installieren mussten, glaubten wir, horrende Installationskosten sparen zu können", nennt Geschäftsleitungsmitglied Claudio Hintermann den Hauptgrund für die Entscheidung. Man plante, rund 170 Telefonapparate für die 150 Mitarbeiter zu installieren. Ein weiteres Argument für VoIP war, dass man die Telefonie in andere Anwendungen integrieren konnte.
Deshalb wollte Abacus die Callcenter-Lösung von Cisco in die eigene Software implementieren. Aber bereits während der Versuchsphase traten die ersten Probleme auf. Das System war noch nicht ausgereift und der Funktionsumfang war zu bescheiden. Für die Telefonistin war es beispielsweise nicht möglich, sämtliche installierten Clients gleichzeitig auf dem Bildschirm zu erfassen. Die Anzeige beschränkte sich auf lediglich etwa 20 Arbeitsplätze.




Bei der Evaluation einer weiteren Lösung, die auf NT basierte, merkte man schnell, dass diese nicht stabil lief. Die Installation hätte um komplexere Switches ergänzt werden müssen, um die Quality of Service (QoS) zu garantieren.



Eine Alternative gab es offensichtlich nicht: "Wir haben nichts Stabiles gefunden, das brauchbar war", so Hintermann. Ausserdem schildert der Abacus-Mann ein weiteres Problem: "Damals gab es noch wahnsinnige Verzögerungen beim Telefonieren." Die Enttäuschung war gross, denn immerhin hatte man während vier Jahren evaluiert.



Dass die Technologie noch nicht ausgereift war, merkten denn auch die Hersteller ziemlich schnell. "Zum Zeitpunkt der Testphase hat sich Siemens beispielsweise selber zurückgezogen", sagt Hintermann. Schliesslich gab man das Vorhaben auf: "Aufgrund der eingegrenzten Fähigkeiten der Cisco-Lösung und dass man damals ein Cluster brauchte, damit es sicher funktionierte, haben wir dann das Vertrauen verloren", so Hintermann.



Heute telefoniert Abacus über konventionelle Drahtlostelefone. "Dadurch sparen wir auch die Verkabelung", was für Hintermann wichtiger ist als die IP-Funktionalitäten, die das System eigentlich bieten sollte.


Kinderkrankheiten überwunden

Abacus würde aber heute nichtsdestotrotz eine VoIP-Lösung evaluieren, denn die Technologie scheint mittlerweile erwachsen geworden zu sein. Es ist nicht mehr nur eine technische Spielerei, um gratis über das Internet zu telefonieren. Vielmehr mauserte sich die IP-Telefonie zu einer ernstzunehmenden Ergänzung oder sogar Alternative zur herkömmlichen PBX-Telefonanlage (Private Branch eXchange). Dass VoIP eine Chance im Markt hat und künftig sogar grossen Erfolg haben dürfte, ist nicht zuletzt den Systemintegratoren und Dienstleistungsunternehmen zu verdanken, welche der Technologie zur raschen Verbreitung verhelfen und somit auch die Kosten für kleine und mittelständische Unternehmen erschwinglich machen.



Im Mittelpunkt von VoIP steht die Konvergenz von Daten und Sprache. Ermöglicht wird dies dadurch, dass die Sprache in IP-Pakete umgewandelt wird und somit ähnliche Eigenschaften erhält wie der herkömmliche Datenverkehr.




Das Zusammenspiel zahlreicher Applikationen auf einem einzigen Netzwerk und die individuelle und dynamische Erweiterbarkeit bieten dabei vielfältige Anwendungsmöglichkeiten für die Geschäftstätigkeit. Darüber hinaus lässt sich die Mitarbeiterproduktivität beispielsweise durch den Einsatz von Unified-Messaging-Lösungen verbessern. Ein weiterer Vorteil ergibt sich durch die sogenannte Computer Telephone Integration (CTI). Dadurch, dass das Kontaktverzeichnis zentralisiert gelagert und verwaltet wird, werden Contact-Center-Informationen für alle Mitarbeiter zugänglich, was mit der klassischen PBX nicht möglich war.




Höhere Kostentransparenz

Weniger die Technologie und die damit verbundenen neuen Anwendungsmöglichkeiten, sondern vielmehr die direkt realisierbare Kosteneinsparung und Produktivitätssteigerung sprechen für den Einsatz von VoIP. "Die Vorteile sind nicht bei der VoIP-Technik an sich, sondern im laufenden Betrieb, bei der einfacheren Bedienung und Administration und den damit reduzierten Kosten zu suchen", sagt Michael Kerle, Geschäftsleitungsmitglied des Schweizer Softwareentwicklers Media-Streams.com.



Raffaello Dolci, Sales Business Development Manager von Cisco Schweiz, sagt, dass die Kostentransparenz viel grösser sei als bei der klassischen PBX-Anlage: "Man kann ganz genau ausrechnen, wieviel ein Kunde einsparen kann." Dabei stehen für Dolci die Installationskosten im Vordergrund. In einem neuen Gebäude braucht ein Unternehmen nur eine Verkabelung für das ganze Datennetzwerk, was die Anschaffungskosten natürlich erheblich reduziert.




Urs Zimmermann, Senior Sales Engineer Enterprise VoIP von Nortel Networks Schweiz, geht noch einen Schritt weiter. Er sieht sogar ein erhebliches Potential für Umsatzsteigerung: "Man kann Kunden besser betreuen und mehr auf ihre Bedürfnisse eingehen, weil sich CRM-Lösungen in VoIP-Infrastrukturen einbetten lassen."




Move Add and Change

Als wichtigstes Argument für die Implementierung einer VoIP-Lösung propagieren die drei Unternehmen aber geschlossen die Schlagworte: Move Add and Change. Das heisst, dass Reorganisationen wie etwa das geografische Umverteilen einzelner Arbeitsplätze oder ganzer Abteilungen sehr einfach und schnell realisiert werden können. Auch entfernte Arbeitsplätze wie in Filialen und Heim-Büros können zentral und mit wenig Aufwand verwaltet werden.



"Heute hat man immer mehr Firmen, bei denen die Mitarbeiter extern arbeiten, sei dies im Verkauf oder von zu Hause aus", sagt Zimmermann und fährt fort: "Diese Leute wollen Zugriff auf alle Daten, wollen aber auch erreichbar sein, und der Anrufer soll gar nicht erfahren, wo sich der Gesprächspartner befindet." Dies werde dadurch möglich, dass VoIP auf einem Datennetzwerk laufe, das von der Distanz her unlimitiert ist.





Investitionen schützen

Ob man sich für oder gegen die IP-Telefonie entscheidet, hängt nicht von der Grösse eines Unternehmens ab. Die meisten Anbieter haben massgeschneiderte Lösungen für kleine Unternehmen mit 10 Mitarbeitern bis hin zu Grossbetrieben mit Tausenden von Arbeitsplätzen im Angebot, wobei sich die Technologie jeweils nur geringfügig unterscheidet. Wenn eine Firma ein neues Gebäude oder eine neue Abteilung bezieht, lohnt sich die Evaluation auf jeden Fall. Aber auch Unternehmen mit verteilten Standorten sollten über eine VoIP-Lösung nachdenken.



Der wohl wichtigste Faktor aber ist der Investitionsschutz. Dabei stellt sich die Frage, ob man seine bestehende PBX-Anlage VoIP-fähig machen will oder ob man sich für eine Neuinstallation entscheidet. Im ersten Fall erübrigt sich die Installation eines zweiten Datennetzes, aber von einem echten Mehrwert kann nicht gesprochen werden, wie Raffaello Dolci behauptet: "Wenn man ein IP-Board in ein PBX einsteckt, ist das Voice over IP aber keine End-to-end-IP-Telefonie." Für Dolci ist die gewonnene Erkenntnis während der Migration ein wichtiger Teil einer Entscheidungsphase, es soll aber nur eine Phase sein. "Das ist kein echter Investitionsschutz, denn wenn man alle Vorteile der IP-Telefonie den Mitarbeitern zur Verfügung stellen will, muss man irgendwann weg von PBX", so Dolci.




Eine andere Strategie verfolgt Nortel mit seiner sogenannten Evergreen-Story. Das Unternehmen kann auf eine breite Basis weltweit installierter Einheiten, wie etwa die PBX-Lösung Meridian, zurückblicken. Deshalb bietet man der Kundschaft Komponenten an, mit denen sich die bestehende Installation durch IP-Elemente ergänzen lässt. "Es ist günstiger, die Anlage mit IP-Elementen zu ergänzen als etwas neues zu bauen", kommentiert Zimmermann.



Der Vorteil einer stufenweisen Implementierung liegt auf der Hand: "Die Firma kann die neue Technologie erst ausprobieren und dann schrittweise einführen", sagt Michael Kerle.




Reif für den Markt

Dass IP-Telefonie auf dem Vormarsch ist, belegt auch die brandaktuelle Studie "Worldwide IP Telephony Equipment Forecast 2002-2007" von IDC. Der Erhebung zufolge wird der VoIP-Markt bis 2007 jährlich um durchschnittlich 45 Prozent ansteigen. Im Jahr 2007 soll weltweit ein Umsatz von 15,1 Milliarden Dollar erwirtschaftet werden. Das grösste Wachstum soll dabei der Bereich IP-PBX erfahren. Hier wird für dieses Jahr ein Umsatzplus von 66 Prozent erwartet.



Dass die Technologie reif für den Markt ist, beweist auch das Interesse der Unternehmen. "Alle Kunden fragen nach IP-Telefonie, also ist die Awareness schon da, aber die wirtschaftliche Situation gestaltet sich momentan schwierig, weshalb die Telefonie-Systeme noch hinten anstehen", analysiert Dolci. Er ist überzeugt, dass die IP-Telefonie boomen wird, sobald sich die wirtschaftliche Situation bessert - seiner Einschätzung nach, dürfte dies bis 2004/05 der Fall sein.




Der Spezialist schildert ausserdem ein häufig diskutiertes Problem: "Heute wird nicht mehr nach der Qualität und Verfügbarkeit gefragt, sondern mehr nach der Sicherheit." Die Unternehmen wollen wissen, wie sie ihr Security-Konzept anpassen, wie sie die Migration möglichst reibungslos durchziehen und wie sie ihre Fax-, Paging- oder Alarmsysteme implementieren können.



Dazu bringt Dolci auch gleich die Antwort: "IP-Telefonie ist Sprache, die in Datenpakete transformiert wird. Alles, was bei einem Security-Konzept als Daten behandelt wird, gilt auch bei der IP-Telefonie." Das bedeutet, dass bereits bestehende Sicherheitskomponenten wie Firewall, Intrusion Detection oder Virenscanner genauso für VoIP eingesetzt werden können.



"Um die Akzeptanz der IP-Telefonie weiter zu fördern, muss auch die Interoperabilität ausgebaut werden", sagt Urs Zimmermann. Das heisst, dass der Anwender Komponenten verschiedener Hersteller einsetzen kann. Dabei stellt sich natürlich die Frage nach der vieldiskutierten Standardisierung.




H.323 oder SIP?

Die bekanntesten Protokolle heissen H.323 und SIP. Letzteres baut auf einer Text-basierenden Beschreibungssprache auf. H.323 dagegen ist eine sogenannte ASM1-Applikation und an sich schon komplexer. Da SIP Text-basiert ist, ist die Sprache einfacher zu implementieren. Ausserdem soll SIP teilweise etwas schneller laufen.
"Die Technologien werden lange parallel laufen, aber langfristig wird sich SIP etablieren", glaubt Zimmermann. Diese Meinung verwundert nicht, ist doch Nortel massxgeblich an der Standardisierung von SIP beteiligt. Ausserdem bietet das Unternehmen bereits ein Produkt an, das ausschliesslich auf SIP basiert.



Die heute eingesetzten Lösungen bauen dagegen grösstenteils auf H.323 auf. Michael Kerle ist aber auch davon überzeugt, dass die Zukunft SIP gehört. Den Grund dafür sucht er bei Microsoft. "Mit der .Net-Initiative hat Microsoft gesagt, wir unterstützen SIP, und deshalb wird SIP künftig Standard sein", so Kerle.




Neben H.323 und SIP bietet Cisco als einziger Anbieter auch einen eigenen Standard mit dem Namen Skinny Client Control Protocol (SCCP) an. Der Hauptunterschied zu H.323 liegt darin, dass SCCP bis zu drei verschiedene Call-Management-Server unterstützt. Bei einem Serverausfall übernimmt jeweils automatisch der noch verfügbare Server, was die Verfügbarkeit deutlich erhöhen soll.




Ohne "dicke" Leitung geht gar nichts

Aber nicht nur die eingesetzte Technologie, sondern auch die Qualität des bestehenden Datennetzes ist für einen erfolgreichen Betrieb von zentraler Bedeutung. "An der Beschaffenheit des Datennetzes kann ein genereller Rollout scheitern", sagt Zimmermann. Das Problem stellt sich vor allem bei Unternehmen mit verteilten Standorten, wie auch Michael Kerle bestätigt: "Die Migration ist gerade bei Filialen sehr schwierig - hier braucht es sehr performante Leitungen." Bei einem sauberen System gebe es hingegen keine Probleme.



Als ideale Voraussetzung gilt für den Fachmann ein Netzwerk, das mit 100-Mbps-Switched-Ethernet betrieben wird und im Backbone über 1-Gbps-Leitungen verfügt. Allerdings seien bei langen Distanzen Verzögerungen beim Telefonieren nach wie vor üblich.
Bei der Verknüpfung mehrerer Standorte besteht ausserdem die Gefahr, dass die Verbindung zwischen einer Niederlassung und dem Hauptquartier ausfällt. Hier bieten sich verschiedene Lösungen an. Eine Möglichkeit, die Telefonie aufrechtzuerhalten, ist etwa, eine separate ISDN-Lösung anzubinden. Cisco bietet beispielsweise die sogenannte Survivable-Remote-Side-Telefonie (SRST) an. Dieses Feature-Set hat die Aufgabe, mit dem Router den Betrieb des Call-Managers sicherzustellen. Das heisst, die Filiale kann zwar bei einer Störung weiter telefonieren, hat aber keinen Zugriff mehr auf die Daten des Hauptsitzes.





Im Mittelpunkt steht der Mensch

Einer der wesentlichsten Faktoren sind die Mitarbeiter selber. Gestaltet sich die Bedienung und die Einarbeitung als kompliziert, ist auch die Akzeptanz gering. Die meisten Hersteller haben deshalb Lösungen entwickelt, die sich äusserlich kaum von herkömmlichen PBX-Anlagen unterscheiden. "Es gibt am Anfang immer Hemmschwellen", sagt Kerle. Seiner Erfahrung nach verwenden die Mitarbeiter zwar die neuen Möglichkeiten, gehen aber nicht in die Tiefe. Deshalb macht die Firma Media-Streams keine Schulungen, sondern Coaching. Das heisst, dass Spezialisten vor Ort mit den Mitarbeitern die neuen Features im täglichen Gebrauch erkunden.



IP-Telefonie führt zu organisatorischen Änderungen. Die IT-Abteilung wird neu für Telefonanwendungen verantwortlich - ein Machtverlust für die ehemaligen Telefonieverantwortlichen. "Dieses Problem kennen wir, gerade in Zeiten, wo die Jobsicherheit ziemlich gering geworden ist", sagt Zimmermann. Auch Kerle kennt dieses Phänomen: "Es geht sogar noch weiter - es gibt den, der merkt, dass sein Job wegfällt und sich anpasst, es gibt aber auch den, der sich sperrt."




Aber ganz so einfach ist es nicht, denn die technischen Anforderungen sind sehr hoch. "Gerade in Migrationsphasen braucht man die Erfahrung von beiden Seiten, das ist eine Frage der Weiterbildung", schliesst Raffaello Dolci.






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