Mit kleinen Schritten zum grossen Ziel

Beim Enterprise Content Management geht es um Menschen und Prozesse und erst in zweiter Linie um Technologie.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/20

     

«Die richtige Information zur richtigen Zeit am richtigen Ort» – unzählige Initiativen zur Verbesserung der Informationshandhabung im Unternehmen haben sich dieses Statement in der Vergangenheit bereits auf die Fahnen geschrieben. Realität wurde diese Vision eines umfassenden Enterprise Content Management, bei dem alle Unternehmensinformationen für sämtliche Anspruchsgruppen auf einer Plattform zur Verfügung stehen, jedoch nur in seltenen Fällen.


Prozesse und Menschen im Zentrum

Nach der weitläufig anerkannten Definition des Verbandes AIIM International (www.aiim.org) handelt es sich bei Enterprise Content Management (ECM) um
«… Technologien zur Erfassung, Verwaltung, Speicherung, Bewahrung und Bereitstellung von Content und Dokumenten zur Unterstützung von organisatorischen Prozessen. ECM-Werkzeuge und -Strategien erlauben die Verwaltung aller unstrukturierten Informationen einer Organisation, wo immer diese auch gespeichert sein mögen.»


Hier wird bereits ein Grundproblem des ECM deutlich: Der Mensch, für den die Information letztlich bestimmt ist, die Prozesse, in denen er agiert und die organisatorischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer er sich bewegt, sowie die Vernetzung und der Austausch dieser Menschen untereinander kommen sowohl in dieser Definition als auch in der heutigen ECM-Praxis meist zu kurz.



Statt dessen dreht sich die Diskussion häufig um die Komponenten von ECM-Systemen. Diese Technologien stellen zwar unzweifelhaft die Basis jeder ECM-Realisierung dar, sind aber doch nur Mittel zum Zweck und dürfen nicht zum eigentlichen und ausschliesslichen Inhalt eines ECM-Projekts werden.


Produktivität hoch, Kosten runter

Egal ob es sich um ECM, Collaboration, Wissensmanagement oder ähnlich gelagerte Ansätze handelt, die Frage ist jeweils die gleiche: Wie lassen sich die in standardisierten Produktionsprozessen während der letzten Jahrzehnte erzielten Produktivitätssteigerungen auch bei den dynamischen Wissensarbeitsprozessen des heutigen «Information Worker» erreichen? Denn ähnlich wie in früheren Produktionsumgebungen kämpft der Wissensarbeiter heute allerorts mit dem Phänomen «Muda» (japanisch für Verschwendung, bekannt geworden durch das «Toyota Production System»): bei der langwierigen und häufig erfolglosen Informationssuche, beim Organisieren, Bereitstellen und Austauschen von Informationen, bei der orts- und zeitzonenüberschreitenden Zusammenarbeit oder der Erfüllung von Compliance-Vorgaben.



Während diese Probleme gerne einer fehlenden oder inadäquaten Technologie zugeschrieben werden, zeigen Studien und Beobachtungen in der Praxis immer wieder, dass Faktoren wie Unternehmenskultur, vorherrschende Zusammenarbeitsformen, organisatorische Aspekte und Strategiequalität die eigentlichen über Erfolg und Misserfolg entscheidenden Faktoren darstellen. Auch wenn zu schnell in Lösungen gedacht wird (zum Beispiel: «Wir brauchen ein DMS»), statt die Probleme zunächst gründlich zu analysieren, bleiben die echten Bedürfnisse des Unternehmens, der Mitarbeiter und sonstigen Anspruchsgruppen allzu oft auf der Strecke.


Ein Ort für alle Informationsbedürfnisse

Dabei wäre es so einfach: Der Anwender möchte alle Informationen, Applikationen, Prozesse und übergreifenden Funktionen an einem zentralen Einstiegspunkt vorfinden, der auf seine persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Dieser Single-Point-of-Access, in der Regel als Web-basiertes Portal realisiert, hinter dem sich beliebige ECM-Komponenten und Informationsquellen verbergen, führt kontextabhängig zu allen benötigten Informationen, stellt situationsgerecht Mechanismen der Kommunikation und Zusammenarbeit zur Verfügung und lässt die Grenzen zwischen persönlichem Informationsmanagement (PIM) und Enterprise Content Management verschwinden.



Soweit die Theorie. In der Praxis mühen sich die Anwender immer noch auf heterogenen Informationsplattformen mit grundlegenden Schwierigkeiten ab, angefangen vom fehlenden Single-Sign-on bis hin zur ebenfalls nicht vorhandenen qualitativ hochwertigen Suche über alle Informationsquellen hinweg.




Gerade anhand des Use-Case «Suche» lassen sich typische Probleme des ECM gut veranschaulichen: Bereits die Integration unterschiedlichster Informationsquellen in eine übergreifende Suche kann hohen Aufwand bereiten. Häufig sind nur für weitverbreitete Standardsysteme entsprechende Konnektoren vorhanden, die auch das Rechte­management für die Suche zuverlässig abbilden können. Für alle anderen Systeme müssen aufwendig eigene Lösungen realisiert werden.



Je mehr Systeme letztlich angebunden werden, desto grösser wird auch der sprichwörtliche Heuhaufen, in dem nun die Nadel gesucht werden soll. Eine hohe Relevanz der Suchergebnisse ist bei einer «Enterprise Search», anders als im öffentlichen Web, nicht allein durch die Wahl der richtigen Suchmaschine zu gewährleisten. Damit der Anwender auch wirklich fündig wird, braucht es vielmehr eine Vielzahl von gut aufeinander abgestimmten Massnahmen. Dazu gehört die laufende inhaltliche Betreuung der durchsuchten Informationsquellen ebenso wie die Analyse der durchgeführten Suchanfragen und die entsprechende Anpassung auf die damit festgestellten Suchbedürfnisse.



Hat der Benutzer schliesslich gefunden, wonach er gesucht hat, stellt sich gleich die nächste Herausforderung: Aus dem Portal wird er nun in der Regel in eine andere Anwendung geführt, deren Aufbau, Aussehen und Funktionieren meist stark von der des Portals abweicht. Orientierung, Rücksprung und Nutzung übergreifender Funktionen sind in Abhängigkeit der realisierten Integrationstiefe meist erschwert oder gar nicht möglich.



Unter Umständen steht ein bestimmter Inhalt sogar in mehreren Versionen und auf mehreren Systemen zur Verfügung: Das ECM-Ziel, dass jede Information nur ein einziges Mal existiert, kann häufig nicht erreicht werden. Sei es aufgrund mangelnder Disziplin der Informationsbereitsteller oder wegen der unkoordinierten Mehrfachablage der Benutzer, die für sie wichtige Informationen nochmals an anderer Stelle ablegen – für den Informationssucher ergibt sich daraus eine Erschwernis, die im hektischen Tagesgeschäft kaum zumutbar scheint.



So stellt die Integration von Systemen, Daten und Funktionen trotz Ansätzen wie Web Services, Service-Oriented Architecture (SOA) oder neuerdings Mash-ups immer noch ein Problem dar, das aufgrund der in den meisten Unternehmen nach wie vor immensen Anzahl von Vielfalt der Systeme nicht unterschätzt werden darf.




AIIM-Modell für ECM - Was ist eigentlich Content? Art der Daten / Informationen


Veränderungen ermöglichen

Auf der menschlichen und organisatorischen Seite kommen die Anpassungsschwierigkeiten hinzu, die mit jeder Veränderung einhergehen. Die Umsetzung einer umfassenden ECM-Strategie führt zu deutlichen Veränderungen in den Arbeitsabläufen der Mitarbeiter und sonstigen Zielgruppen. Eingeübte Bedienungsabläufe und Vorgehensweisen werden durch neue abgelöst, die Automatisierung von Prozessen schürt die Angst um den Arbeitsplatz, und die Öffnung neuer Informationswege verschiebt bestehende Machtstrukturen.



Um trotzdem Akzeptanz für ECM-Projekte zu schaffen, ist es wesentlich, die betroffenen Personenkreise von Anfang an zu involvieren, Erforderlichkeit und Potentiale des Projekts klar zu machen, offen auch über negative Aspekte zu kommunizieren und die neue Arbeitsweise authentisch vorzuleben. Hierbei ist vor allem auch die Unternehmensspitze gefragt, deren gutes oder schlechtes Beispiel von den Zielgruppen besonders aufmerksam beobachtet wird.


Vernachlässigte Organisation

Durch die Notwendigkeit eines gut abgestimmten Zusammenspiels von Prozessen, Menschen, Organisation und Technologie entwickelt sich ECM schnell zu einem Projekt höchster Komplexität. Der wichtigste Grundsatz ist deshalb ein schrittweises Vorgehen, mit dem sich das kaum fassbare Gesamtvorhaben in überschaubare Phasen aufgliedern lässt. Jede Phase sollte dabei so gestaltet werden, dass:



- das Ergebnis nutzenstiftend und anwendbar ist und als Mittel zur Demonstration der Nützlichkeit des Projekts und zur Akzeptanzschaffung dienen kann;



- das Risikopotential auf ein vertretbares Mass reduziert und bei negativem Ausgang ein Ausstieg ohne weitere Verluste möglich ist, der in den vorhergehenden Phasen erreichte Status also gesichert und vollumfänglich weiterverwendbar ist;


- eine Anpassung auf die sich immer schneller wandelnden internen und externen Rahmenbedingungen sinnvoll möglich ist;


- ein klarer Bezug zur ECM-Strategie besteht und demonstriert werden kann.



Für die Projektdurchführung ist eine Projektmethodik zu verwendetn, die dem Komplexitätsgrad des Vorhabens insgesamt angemessen ist. Sie muss auch die für den Projekterfolg so bedeutsamen organisatorischen Faktoren durchgängig über alle Phasen hinweg einbeziehen. Darunter fallen insbesondere:



- ECM-Strategieprozess


- Aufbauorganisation und Rollenmodell


- Ablauforganisation und Prozesse


- Ziele und Erfolgsmessung


- ECM-Governance.



Nur so ist eine dauerhafte Verankerung des ECM-Gedankens in die Organisation und somit ein langfristig anhaltender Nutzenbeitrag möglich.


Web 2.0 und ECM

Eine der grundlegendsten Veränderungen im Web-Bereich, der Einsatz von Blogs, Wikis, Mash-ups und anderen Ansätzen des Social Computing, hält auch immer stärkeren Einzug in die Unternehmen. Schlagworte wie «Intranet 2.0» oder «Enterprise 2.0» können die ganze Tragweite dieser Entwicklungen, die zukünftig vermehrt zu Paradigmenwechseln führen werden, allerdings nur schlecht wiedergeben.





Dennoch wird gerade an «Enterprise 2.0» deutlich, dass es nicht vordergründig um den Einsatz neuer Tools geht, sondern um eine radikale Umgestaltung der Unternehmen, ihrer Verhaltens- und Kommunikationsweisen, ihrer Einstellungen und Arbeitsweisen. Bezogen auf ECM bedeutet dies insbesondere, dass es nicht nur um die Integration beispielsweise eines Wiki in die bestehende ECM-Plattform geht. Vielmehr müssen Aspekte wie die Unternehmenskultur und die Art, wie die Mitarbeiter zusammenarbeiten, auf den Prüfstand kommen, um bedarfs- und kulturgerechte Lösungen zu ermöglichen.




Web 2.0 entwickelt sich somit auf der einen Seite zum Prüfstein für die Organisation, andererseits aber auch für das gewählte ECM-Modell. Rasch stellen sich dabei verschiedene Fragen: Kann die integrative Middleware der ECM-Plattform die Vielzahl unter­schiedlicher und immer schneller hinzukommender Web-2.0-Tools und -Dienste adäquat unterstützen? Welche Überschneidungen bringen die neuen Ansätze mit, die in gleicher oder ähnlicher Form schon in bestehenden ECM-Komponenten enthalten sind? Lassen sich die Inhalte der Social-Media-Applikationen sinnvoll in bestehende ECM-Repositories integrieren, und wie können übergreifende Konzepte wie Social Tagging auf bestehende Informationen in den Repositories angewendet werden?




Web-2.0-Techniken im Intranet-Umfeld


Fazit und Ausblick

Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hängt zunehmend von der Ressource «Information» und der engen, situationsgerechten Zusammenarbeit aller Beteiligten über Bereichs- und Unternehmensgrenzen hinweg ab. Ein richtig verstandenes, den echten Bedürfnissen entsprechendes Enterprise Content Management kann eine Schlüsselstellung für eine grundlegende Veränderung der Organisation in diese Richtung einnehmen.


Dazu ist es jedoch erforderlich, dass die bisher oft übliche, stark technologiezentrierte Vorgehensweise ebenso wie monolithische ECM-Megaprojekte durch ganzheitliche Methoden abgelöst werden, die auf Anwender, Prozesse, Organisation und Systeme ausgerichtet sind. Auf dieser Basis lässt sich eine fundierte und längerfristig gültige ECM-Strategie entwikkeln und in vielen kleinen Schritten in die Realität umsetzen.



Ansätze des Web 2.0, zunehmende Standardisierungsbemühungen sowie eine neue Offenheit im Denken und in den Systemen dürften eine neue Generation von ECM-Initiativen zusätzlich beflügeln.


Der Autor

Stephan Schillerwein ist Geschäftsführer der Schillerwein Net Consulting GmbH (www.schillerwein.ch).




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