Open Source erobert die Unternehmens-IT
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/03
Kaum ein Thema wird in der IT-Industrie derzeit so kontrovers diskutiert wie Open Source. Nicht einmal die sonst allwissenden Analysten vermögen mit dem Thema aussagekräftig umzugehen. In regelmässigen Abständen überschlagen sie sich mit optimistischen Prognosen zur Ausbreitung von Open Source, um sie dann im nächsten Augenblick mit entsprechend untermauerten Fakten wieder zu relativieren. Auch unterschiedliche Mitteilungen – insbesondere aus dem Government-Bereich, wonach sich diese oder jene Organisation explizit für Linux und Open Source bzw. dagegen entschieden hat – tragen nicht zur Klärung der allgemeinen Verwirrung bei.
Über Open-Source-Software kursieren in der Branche ausserdem zahlreiche Halbwahrheiten und Mythen. So sollen diese Lösungen etwa billiger sein, gleichzeitig aber hohe Risiken mit sich bringen und über keinen Support verfügen. In Tat und Wahrheit trifft dies für ausgereifte Lösungen aber nicht zu (vgl. untenstehende Tabelle).
Woran aber liegt es, dass jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, zu so unterschiedlichen Resultaten gelangt? Und wie ist Open Source angesichts dieser Fakten in der eigenen Organisation zu positionieren?
Allen Mythen zum Trotz kann nämlich festgestellt werden, dass der Open-Source-Gedanke in der IT-Industrie seine Spuren hinterlassen hat. Die Zeiten, in denen Open Source bloss etwas für eine kleine Schar von Geeks war, sind endgültig vorbei. Dies belegen nicht zuletzt die Reaktionen kommerzieller Hersteller, welche durch konkurrierende Open-Source-Lösungen dazu gezwungen sind, ihre Produkte zu signifikant niedrigeren Preisen anzubieten. Manche Hersteller haben aus der Not eine Tugend gemacht und sind dazu übergegangen, in Kooperation mit der Community neue Produkte zu entwickeln oder sich die Sympathie der Community durch finanzielle Unterstützung und aktive Beiträge zu sichern. Grund genug also, um sich mit Open Source vertraut zu machen und das Potential für Open Source in der eigenen Organisation zu evaluieren.
Mythen und Wahrheiten zu Open Source
Das Spektrum an Open-Source-Lösungen umfasst heute den ganzen Software-Stack, beginnend bei Infrastruktur-Komponenten bis hin zu komplexen Business-Lösungen. Grosse Unterschiede bestehen in der Qualität, dem Reifegrad und Einsatzspektrum der Open-Source-Projekte. Von besonderem Interesse, insbesondere für den produktiven Einsatz einer Lösung, sind aber auch zugrundeliegende Lizenzmodelle sowie der verfügbare Support.
Zumeist implizieren die gängigen Open-Source-Lizenzmodelle, dass die durch die eigenen Spezialisten implementierten Bugfixes und funktionalen Erweiterungen an die Community zurückgegeben werden müssen. Damit verbunden sind jedoch auch rechtliche Risiken aus Produktehaftung oder Patentrecht. Damit steht die Supportfrage sicher an erster Stelle bei der Evaluation einer Softwarelösung, will sich das Unternehmen nicht den rechtlichen Risiken aussetzen.
Wer nun aber annimmt, dass Open-Source-Software im unternehmenskritischen Enterprise-Umfeld nichts zu suchen hat, irrt. Gerade Systeme mit Infrastruktur-Charakter, welche aufgrund von «offenen Standards» einfach austauschbar sind, bedürfen selten einer Anpassung oder Weiterentwicklung durch die interne IT. Oft stehen sie gar in direkter Konkurrenz zu kommerziellen Lösungen. Viele dieser Systeme haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie ihren kommerziellen Vorbildern unter bestimmten Voraussetzungen in keiner Weise nachstehen. Meist sind sie in bezug auf Stabilität, Sicherheit und Performance kommerziellen Systemen überlegen. Prominente Beispiele hierfür sind das Open-Source-Betriebssystem Linux oder die Web- und Applikationsserver aus der Apache Community, die unter anderem bei grossen Internet-Unternehmen wie Google, Amazon oder Yahoo im Einsatz stehen.
Aber nicht nur in diesem High-end-Markt haben sich heute Open-Source-Lösungen etabliert. Softwarelösungen, welche mit der Wertschöpfungskette nicht in direktem Bezug stehen, erlauben es ohne grosse Risiken, vom Potential der freien und damit kostenlosen Software Gebrauch zu machen.
In besonderem Masse wird dies etwa bei der Software-Entwicklung deutlich. So mussten z.B. Hersteller von Java-Entwicklungsumgebungen gar dazu übergehen, Basisversionen ihrer Produkte der Open-Source-Community zur Verfügung zu stellen, um sich die für ein Überleben des Produkts notwendigen Marktanteile zu sichern. Dieser Trend zeichnet sich auch bei anderen Komponenten wie etwa Applikationsservern oder Datenbanken ab. Abzulesen ist dies nicht zuletzt an der Preisentwicklung entsprechender kommerzieller Lösungen. Und ein Ende dieser Entwicklung ist vorerst nicht in Sicht.
Zusätzlich beschleunigt wird diese Entwicklung mit der Favorisierung der Open-Source-Community für das freie Betriebssystem Linux. Besonders in der Verbindung mit preiswerter Hardware auf Intel- oder AMD-Basis lässt sich ein bis anhin konkurrenzloses Preis/Rechenleistungs-Verhältnis erzielen. Nicht zuletzt diese Tatsache ist es, welche den Einsatz von Open-Source-Lösungen im Vergleich zu High-end-Unix-Systemen wirtschaftlich sinnvoll werden lässt.
Gerade diese durch günstige Hardware erzielbaren Kostenvorteile möchten viele Unternehmen für sich in Anspruch nehmen. Auch die Flexibilität, der Standardisierungsgrad und die Unabhängigkeit von Anbietern tragen weiter zur Attraktivität von Open Source bei.
Dennoch, die potentielle Möglichkeit, Open-Source-Lösungen mitzugestalten, stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. So muss sich jede Organisation, noch bevor sie an den unternehmensweiten Einsatz einer Lösung denkt, darüber klar werden, wie sie mit der Open-Source-Community zusammenarbeiten will. Die meisten IT-Departments werden sich mit dem reinen Einsatz der Software begnügen. Andere, insbesondere grössere Unternehmen, werden auch über eine aktive Mitarbeit in der Community nachdenken. In jedem Fall gilt, dass innerhalb der Unternehmung klare Richtlinien erarbeitet werden sollten, wie und über welche Kanäle mit der Community interagiert werden soll. Sofern dies die Organisation zulässt, empfiehlt es sich, ein eigenes Kompetenzzentrum zu etablieren, welches die Kommunikation mit der Community kanalisiert.
Sind die Leitplanken für einen Open-Source-Einsatz gesetzt, gilt es, aus der schier unübersehbaren Vielzahl von Lösungen die geeigneten Kandidaten zu identifizieren. Alleine auf SourceFourge.net sind über 90'000 Projekte gelistet. Um dieses Potential im Unternehmen wirtschaftlich nutzen zu können, braucht es hervorragende Kenntnisse über den Markt sowie eine Möglichkeit, die Qualität der Lösungen zu beurteilen. Die im nebenstehenden Kasten aufgeführten Kriterien können bei der Wahl der richtigen Lösung wertvolle Hilfestellungen leisten.
Nicht jede Unternehmung kann es sich leisten, Mitarbeiter für die Beobachtung des Open-Source-Marktes abzustellen. Eine hervorragende Kenntnis der Community und der Projekte ist wiederum Voraussetzung für einen strategischen und langfristig wirtschaftlichen Einsatz von Open-Source-Lösungen. Deshalb kann es gerade in der Startphase sinnvoll sein, externe Unterstützung für die Erarbeitung einer Strategie oder auch nur für die Evaluation einer spezifischen Lösung beizuziehen.
Verschiedene IT-Beratungsunternehmen bieten Linux- und Open-Source-Discovery-Workshops an, welche Open-Source-Opportunitäten unter Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten aufzeigen und bewerten helfen. Bereits eine Vielzahl von Unternehmen und Organisationen konnten aufgrund solcher Workshops erfolgreich einen bedarfsgerechten und gewinnbringenden Einsatz von Open-Source-Technologien und -Lösungen identifizieren – ohne sich mit zeitaufwendigen Untersuchungen und eventuell schmerzhaften Lernkurven auseinandersetzen zu müssen.
Die Evaluation einer Open-Source-Lösung sollte folgende Sachverhalte beinhalten:
Die Reife der Lösung: Diese lässt sich sehr zuverlässig an der Entstehungsgeschichte, der Aktivität der entsprechenden Community sowie an der Anzahl veröffentlichter Publikation ermitteln. Zudem relevant ist auch, wie viele Produktionsversionen das Projekt bereits hinter sich hat und wie künftige Versionen geplant werden.
Die strategische Bedeutung des Projektes: Ebenso wie ihre kommerziellen Verwandten, müssen sich Open-Source-Projekte in ihrem Markt bewähren können, um langfristig Erfolg zu haben. Dies wiederum ist die Basis für ihren Einsatz in unternehmenskritischen Bereichen. Von grösster Relevanz bei der Bestimmung der strategischen Sicherheit ist das zugrundeliegende Lizenzmodell. Insbesondere gilt es zu beachten, welche Bestimmungen einer kommerziellen Nutzung entgegenstehen – dies könnte einer Unterstützung aus der Software-Industrie, sei es durch Sponsoring oder aktive Mitarbeit, im Wege stehen. Zu beachten gilt es auch, wie viele und welche Projekte die Lösung konkurrenzieren und wie stark die gegenwärtige Vormachtstellung der zu evaluierenden Lösung ist.
Auch die Markt-Präsenz spielt bei der qualitativen Beurteilung einer Lösung eine entscheidende Rolle. Hierbei können Resultate aus Umfragen herangezogen werden. Andere Indikatoren sind der kommerzielle Support, welcher für die Lösung angeboten wird, respektive in welchen Produkten die Lösung eingesetzt wird. Diese Informationen lassen sich oftmals aus den Homepages der Projekte entnehmen.
Harald Böttcher ist Senior Architect bei Cambridge Technology Partners, einer Tochter der Novell Inc.