Editorial

Die Zahl digitaler Identitäten hat ihre Grenzen!


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/03

     

Seit dem 1. Januar 2005 gilt das «Bundesgesetz über die elektronische Signatur»; David Rosenthal hat dazu in InfoWeek.ch vom 24. Januar einen informativen und anregenden Artikel publiziert. Kernaussagen daraus:


• Eine physische Identität bezieht sich auf eine Person als Mensch; die amtliche Identitätskarte weist dazu biometrische Daten wie Foto, Körpergrösse und Unterschrift aus, aber auch administrative Daten wie Namen, Alter und Nationalität.


• Digitale Identitäten sind ähnlich zu Kundenkarten, mit denen sich ein Mensch bestimmten Geschäftspartnern gegenüber ausweist und dabei rechtsgültig «unterschreiben» kann. Da aber Passwörter – anders als die Unterschrift – nicht physisch an die Person gebunden sind, können sie auch weitergegeben (sowie gestohlen) werden.





Offensichtlich hat ein Mensch nur eine physische Identität, kann sich aber beliebig viele digitale Identitäten zulegen. David Rosenthal gibt zu Recht Datenschutz und Datensicherheit als wichtige Gründe für die Verwendung mehrerer Identitäten an, denn dadurch werden die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen erschwert, der Verlust eines Passwortes erträglicher und einige System-Login-Prozeduren einfacher.
Dass manche Menschen gerne mit mehreren Identitäten spielen, ist allerdings nicht erst eine Erfindung der Informationsgesellschaft. Fasnächtliche und kriminelle Maskeraden tun das sogar mit der physischen Identität. Manche zeigen ein unterschiedliches Arbeits-, Freizeit- und Familiengesicht. Wir verteilen Ersparnisse sowohl aus Geheimhaltungs- als auch aus Sicherheitsgründen auf mehrere Banken. Warum sollten solche Überlegungen nicht auch in virtuellen Welten gelten?







Aber die moderne Vervielfältigung der Identitäten – computergestützt immer einfacher geworden – stösst auch an Grenzen, zuallererst an Grenzen der Komplexität. (Wer hat schon noch vollständigen Überblick über seine sämtlichen gültigen Passwörter?) Eine andere Grenze setzt das Strafgesetz: Kein Bedürftiger darf unter zwei verschiedenen Identitäten Sozialleistungen beziehen oder Kredite aufnehmen. Und immer häufiger lesen wir von Fällen, wo Personen im Scheinwerferlicht, namentlich Politiker, ins Verhängnis laufen, weil ihre verschiedenen Identitäten in Konflikt geraten, sei es bei Zahlungen auf versteckte Konti, bei Treffen mit speziellen Partnern oder schlicht durch widersprüchliche Aussagen, die sie in unterschiedlichen «Rollen» vor unterschiedlichen Gruppen und Gremien gemacht haben.





Leo Tolstoi hat die berühmte Erzählung geschrieben «Wieviel Erde braucht der Mensch?». Sein Hauptdarsteller ging an Landgier zugrunde. Heute müssen wir fragen: «Wieviele Identitäten braucht der Mensch?» In der virtuellen Welt lockt ein Dickicht von Angeboten, häufig verbunden mit passwortgeschützten und trotzdem anonymen Zugangsmöglichkeiten (Pornoangebote und anschliessende Polizeirazzien auf privaten PCs lassen grüssen!). Auch hier steht
eine Form von Raffgier dahinter, womit die Selbstkontrolle ausgeschaltet wird.
Niemand kann beliebig viele Identitäten parallel konfliktfrei leben und aushalten!




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