Windows «Longhorn»: Zuviel versprochen
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/02
Windows «Longhorn» wird von Microsoft als «das revolutionäre neue Betriebssystem» angekündigt. Doch bei der Umsetzung der für «Longhorn» vorgesehenen Funktionen tut sich der Redmonder Softwareriese schwer. Immer mehr stellt sich die Frage, ob sich ein Umstieg nach der Freigabe des Betriebssystems voraussichtlich im Jahre 2006 überhaupt lohnen wird.
Im Rahmen einer Diplomarbeit wurde der Pre-Alpha-Build 4074 des kommenden Betriebssystems an der Zürcher Hochschule Winterthur ausgiebig getestet und mit Windows XP verglichen. Die beiden Diplomanden Reto Menzi und Sandro Zimmer haben sich dabei auf die technischen Aspekte von «Longhorn» konzentriert und sind insbesondere der Frage nachgegangen, ob sich das Update für Anwender und Firmen aufdrängt.
Das Installationsprozedere von Windows-Betriebssystemen war bis anhin eine langwierige Sache. Wer einen PC nicht mit vorinstalliertem Betriebssystem kauft, muss sich über eine Stunde mit verschiedenen Bildschirmen, Sanduhren und zahlreichen Fragen bemühen, die dann und wann auftauchen. Alle paar Minuten vergewissert sich das System über unsere Anwesenheit, indem es eine Eingabe verlangt.
«Longhorn» ist in dieser Beziehung erwachsen geworden. Die Installationsroutine fragt den User gleich zu Beginn der Installation nach allen relevanten Angaben, installiert dann das System samt aller Basiskomponenten in einem einzigen Durchlauf und meldet sich erst wieder, wenn es lauffähig aufgesetzt ist. Und als ob dies nicht schon genug wäre, ist die Pre-Alpha dabei schon zehn Minuten schneller als ihr Vorgänger XP.
Bekanntlich basiert «Longhorn» auf den drei Subsystemen Avalon, WinFS und Indigo. Microsoft sieht vor, dass mit «Longhorn» der Unterschied zwischen Internet und Desktop weitgehend verschwinden soll. Daraus ergibt sich eine gewisse Problematik: In Redmond nimmt man stillschweigend an, dass jeder User permanent über einen Internetanschluss verfügt. Und nicht nur das, die neuen Anwendungen werden so daten- und ressourcenintensiv sein, dass ein einfacher Analoganschluss per Modem nicht mehr ausreichen wird. Ein Breitbandanschluss ist zwingend, und wenn er fehlt, wird uns «Longhorn» in einer penetranten Weise darauf hinweisen, dass keine Internetverbindung vorhanden sei.
Auch die Verschmelzung von Internet Explorer (IE) und Datei-Explorer wirft Fragen auf. Der Datei-Explorer wird mit der von Sicherheitsexperten oft bemängelten IE-Technologie bestückt sein müssen, damit diese Verschmelzung gelingt. Dies heisst aber nichts anderes, als dass der IE auch dann aktiv sein wird, wenn eigentlich nur
der Datei-Explorer geöffnet wird. Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass der IE in «Longhorn» plötzlich von all seinen Sicherheitslöchern befreit sein wird.
Mit der NGSCB (Next Generation Secure Computing Base) geht Microsoft die Sicherheitsfrage jedoch ganz neu an. Dies ist zu begrüssen, hat sich doch die bisher verfolgte Strategie, mittels Updates Sicherheitslöcher zu kitten, mehr schlecht als recht bewährt.
NGSCB soll jetzt nur noch verifizierter (und damit für vertrauenswürdig befundener) Software die Installation auf dem Computer erlauben. Viren und anderen Schädlingen würde es damit verunmöglicht, sich auf dem PC und seinem abgesicherten Betriebssystem zu installieren. Das Problem scheint gelöst – bis zu dem Tag zumindest, an dem der erste offiziell beglaubigte und verifizierte Virus sein Unwesen zu treiben beginnt. Nicht auszudenken sind dabei die Folgen, sind doch einem solchen «offiziellen» Virus im System Tür und Tor geöffnet.
Auch ein anderer Aspekt hat Sorgenfalten auf die Stirn diverser Anwender gebracht: Mit NGSCB hat Microsoft nämlich ein effizientes Mittel in der Hand, zu bestimmen, welche Software auf dem Computer installiert werden darf und welche nicht. Dieses Problem scheint jedoch lösbar. Es sollte eine von Microsoft und auch anderen Softwareherstellern unabhängige Instanz mit der Verifizierung der Software betraut werden. Ob Microsoft sich zu diesem Schritt bereit erklären wird, ist eher zu bezweifeln. Auch staatliche Gremien sind derzeit eine wenig wahrscheinliche Alternative, obwohl hier eine zentrale Zertifizierungsstelle zweckmässig wäre.
Eines steht fest: «Longhorn» wird zum ressourcenintensivsten Betriebssystem aller Zeiten. Noch nie waren die Hardware-Anforderungen an einen PC so hoch wie bei «Longhorn». Momentan werden in verschiedenen Foren Schreckenszahlen von einem Dual-Core-Prozessor mit 5-6 GHz, 2 GByte RAM, 128-MByte-Grafikkarte und 1 Terabyte Festplattenspeicher herumgereicht. Diese Zahlen scheinen nach unseren Tests allerdings etwas hoch gegriffen, haben wir doch die von uns getestete Pre-Alphaversion auch mit einem herkömmlichen 2,4-GHz-Pentium-4 und mit «nur» 1 GB RAM ganz passabel zum Funktionieren gebracht.
Weiter muss man Microsoft zugute halten, dass man für die hohen Hardwareanforderungen auch einiges bekommt. Das neue Oberflächendesign «Aero», das in seiner Aufmachung an das von Apple bekannte OS-X-Design («Aqua») erinnert, ist schlicht eine Augenweide. Es kommt in der Microsoft-Welt einem Quantensprung gleich, wenn man erlebt, wie die halbtransparenten Windows-Fenster elegant aufzoomen und mit Leichtigkeit verschoben und neu skaliert werden können – allerdings nur beim Einsatz einer mit mindestens 128 MB RAM bestückten Grafikkarte mit 3D-Beschleuniger.
Auch das neue Dateisystem WinFS scheint einer kleinen Revolution gleichzukommen. Die Art und Weise, wie Dateien auf einer Disk verwaltet werden, wird sich mit WinFS radikal ändern. Mit diesem Meta-Datenverzeichnis können die Dateien nicht nur besser gesucht und geordnet werden. Auch das Anzeigen von Datenbeständen, welche mit den gesuchten Dokumenten in einer direkten Relation stehen, wird damit möglich sein. Beispielsweise kann dies ein Reisebericht sein, der angezeigt wird, wenn die entsprechenden Urlaubsfotos gesucht werden. Weiter wird die zentrale Verwaltung von Daten auch applikationsübergreifend möglich sein. Als Beispiel könnte man hier ein Adressbuch aufführen, welches von allen Programmen gemeinsam benutzt werden kann, aber nur einmal in einer zentralen Datei gepflegt wird. Dies alles ist dank den neuen Metadaten möglich, welche jedem neuen Dokument zugeordnet werden. Dies zieht allerdings zwangsläufig auch enormen zusätzlichen Speicherbedarf mit sich. So kann es durchaus sein, dass die Meta-Daten grösser sind als das eigentliche Dokument.
Leider wird WinFS nicht in der ersten Version von «Longhorn» enthalten sein, sondern frühestens ein Jahr später nachgereicht.
Auf die Darstellung an sich soll nicht mehr weiter eingegangen werden, die ist mit «Aero» definitiv hervorragend geglückt. Was dagegen stört, ist die Platzverschwendung, mit welcher Microsoft die Benutzeroberfläche gestaltet hat. So wurden für drei, vier Buttons riesige Balken kreiert, wodurch der eigentliche Visualisierungsbereich unnötig eingeschränkt wird. Dabei handelt es sich erst noch um Funktionen, die nicht unbedingt von so grosser Wichtigkeit sind, dass man sie gleich in dieser erdrückenden Grössenordnung plazieren müsste.
Aus unserer Sicht wären auch kleinere Symbole zweckmässig, die nach jeweiligen Vorlieben grösser oder gar kleiner gemacht werden könnten (und dies stufenlos!), wie das im Datei-Explorer mit den Dateisymbolen bereits implementiert ist. Dabei sollte es auch dem Anwender überlassen werden, welche Symbole ihm als wichtig erscheinen. Hier macht sich eine gewisse Arroganz von Microsoft bemerkbar, da sie dem Anwender auch mit «Longhorn» wie bisher vorschreiben will, welche Funktionen wichtig sind und welche nicht. Technisch wären benutzerfreundlichere Lösungen längst machbar.
Auch die neue «Sidebar» ist etwas wuchtig ausgefallen. Allerdings kann sie in der Grösse verändert oder gar komplett entfernt werden. Die Funktionen darin, darunter die Uhr, die Schnellstartleiste und ein Infobereich, sind jedoch ganz praktisch.
Die Frage stellt sich nun, wem «Longhorn» konkret etwas bringen wird. Dies ist mit Sicht auf die verschiedenen Bedürfnisse der Anwender schwierig zu beantworten. Firmen, die viel Wert auf Sicherheit legen wie beispielsweise Banken, müssen sich ernsthaft mit «Longhorn» befassen. NGSCB könnte hier ein gewichtiges Pro-Argument sein. WinFS scheint auf Desktop-Computersystemen eher für kleine Firmen von Interesse. Bei allen anderen Firmen ist WinFS erst wirklich interessant, wenn es auf Servern und Desktops gleichermassen im Zusammenhang mit entsprechenden Applikationen zum Einsatz gebracht werden kann.
Als Hemmnis für viele Firmen könnte sich der enorm hohe Ressourcenbedarf von «Longhorn» herausstellen, denn ein Umstieg auf das neue Betriebssystem wird in vielen Fällen auch bedeuten, dass die PC-Systeme ausgewechselt werden müssen.
Zusammengefasst wird «Longhorn» am interessantesten für Firmen mit hohem Sicherheitsbedürfnis oder, sobald WinFS für verschiedene Windows-Plattformen verfügbar sein wird, für ganz kleine Firmen sein. Für alle anderen drängt sich ein sofortiger Wechsel nicht auf.
Bei Privatanwendern sind diese Argumente weniger wichtig. WinFS hingegen wird auch zu Hause äusserst praktisch sein. Weiter ist für einen Homeuser das Design im Normalfall wichtiger als für eine Firma. Wer Wert darauf legt, den wird «Aero» nicht kaltlassen. Auch die vielen kleinen Annehmlichkeiten wie ein Synchronisationsmanager für die eigene Homepage oder der Downloadmanager wird eher die Privatkunden ansprechen. Ein Wechsel scheint sich allerdings auch für Privatanwender nicht aufzudrängen – mindestens so lange nicht, bis WinFS verfügbar sein wird.
«Longhorn» scheint nicht der ganz grosse Wurf zu werden, wie das Microsoft noch vor kurzem behauptet hat. Vor allem das Fehlen von WinFS zum Releasetermin wird sich nachteilig auf das neue Betriebssystem auswirken. Die verbleibenden Neuerungen reichen nicht aus, um von einer Revolution zu sprechen – eher handelt es sich um eine Evolution.
Die nun verfolgte Häppchen-Strategie scheint uns nicht optimal zu sein. Sinnvoller wäre es wohl gewesen, wenn Windows XP völlig überarbeitet worden wäre, mit Avalon und Indigo bereits integriert, welche sowieso als Add-on für XP und 2003 Server zur Verfügung stehen werden. Dies hätte den Entwicklern in Redmond genug Zeit gegeben, ein «Longhorn» auf den Markt zu bringen, das alle geplanten Komponenten enthält und auch soweit ausgetestet wäre, dass schwerwiegende, imageschädigende Fehler eher vermieden werden könnten.
Die jetzige Situation ist unbefriedigend. Windows «Longhorn» wird nun auf Biegen oder Brechen zum in Aussicht gestellten Erscheinungstermin im Jahre 2006 durchgedrückt. Dabei muss beim Kunden zwangsläufig der Eindruck entstehen, dass dies auf Kosten der Qualität gehen könnte. Das wäre schade und würde niemandem etwas bringen.
Reto Menzi und Sandro Zimmer sind Diplomanden der Zürcher Hochschule Winterthur.