Voraussetzung für den Einsatz von ITIL
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/11
Um die Prinzipien und Best Practices nach ITIL erfolgreich anwenden zu können, müssen im Unternehmen erst Voraussetzungen geschaffen werden, die ein gemeinsames Verständnis der beteiligten Mitarbeiter für die durch sie erbrachten Serviceleistungen sowie deren Lebenszyklus (Service Life Cycle) ermöglichen. Oder ist es etwa vorstellbar, dass eine Automobilfabrik Abläufe optimieren und qualitätssichernde Massnahmen umsetzen könnte, ohne dass das Management weiss, welche Autos in welcher Menge hergestellt werden und durch wen und wie diese zusammengebaut werden sollen?
Nehmen wir das vielleicht überzeichnete, aber sicher nicht untypische Beispiel der FIRMA. Das Unternehmen ist aus einfachen Konstruktionen entstanden, die mit der technologischen Entwicklung und dem Wachstum immer komplexer wurden. Die Zahl der Produkte vermehrte sich, und die Mengenanforderungen der Kunden veränderten sich immer kurzfristiger. Das Unternehmen war aber immer noch in einzelnen Arbeitsplätzen und Abteilungen organisiert, die im wesentlichen selbständig funktionierten und dabei in hohem Masse vom Know-how einzelner Schlüsselpersonen abhingen. Das ging jeweils solange gut, bis ein Produktionsfehler offensichtlich wurde. Dann entstand meist ein grosser Aufruhr, und alle beteiligten sich nach Kräften an der Fehlerbeseitigung, wobei jeder jede Gelegenheit wahrnahm, um von allfälligen eigenen Fehlern abzulenken. Die Folgen wurden für die FIRMA mit der Zeit unangenehm. Immer öfter waren Kunden unzufrieden, weil bezogene Produkte trotz grundsätzlich sehr guter Arbeit zum Teil vor dem Einsatz noch nachgebessert werden mussten. Das FIRMA-Management war aber der Überzeugung, dass die vorhandenen materiellen und personellen Ressourcen durchaus ausreichen müssten, um Produkte in der gewünschten Qualität und Menge herzustellen. Bekannt waren allerdings nur die Gesamtkosten der Jahresproduktion. Die Kosten der einzelnen Arbeitsschritte waren dem Management so wenig bekannt, wie die einzelnen Abteilungen und Arbeitsplätze über den Gesamtzusammenhang ihrer Arbeit im Bilde waren.
Unter dem wachsenden Kundendruck sah sich die FIRMA gezwungen, die Qualität ihrer Leistungserstellung zu verbessern. Ein Berater wurde beigezogen, der empfahl die Probleme durch die Einführung von branchenbezogenen Best Practices zu beseitigen. Die bereits in verschiedenen Seminaren mit diesem Thema konfrontierte Geschäftsleitung setzt in der Folge auf dieses «Wundermittel».
Wie die FIRMA sind die meisten IT-Abteilungen unstrukturiert gewachsen. Und genau wie die FIRMA sind die Anforderungen an sie in den letzten Jahren durch den technologischen Fortschritt sehr viel komplexer geworden, so dass trotz guter Einzelarbeit mehr und mehr unvorhergesehene Fehler auftauchen. Und auch für IT-Abteilungen gibt es wie für produzierende Industriebetriebe branchenspezifische Best Practices. Was aber muss erfüllt sein, bevor diese Best Practices, sprich ITIL, wirklich genutzt werden können?
IT-Leistungen im Unternehmens-Zusammenhang
Der Einsatz von Best Practices zur Verbesserung der Servicequalität erfordert sehr gute Kenntnisse über das Zustandekommen einer Leistung. Das Wissen, WER, WAS und WOFÜR eine Leistung erbringt, ist die Grundvoraussetzung für den sinnvollen Gebrauch von Best Practices.
Aus diesem Grund müssen vor oder mindestens zeitgleich mit dem Beginn einer Servicemanagement-Initiative
die Geschäftsprozesse und die Wertschöpfung
die Servicestruktur und
das Rollenmodell
geklärt sein.
Die Geschäftsprozesse bilden den Lebenszyklus der angebotenen Services, der entwickelten Anwendungen und der bereitgestellten Plattformen ab. Der IT Services Life Cycle ist der Geschäftsprozess, in dem die Wertschöpfung durch die operativen Services erfolgt. Dieser basiert auf der bekannten Grundstruktur Plan-Build-Run, die aus Gründen der besseren Steuerbarkeit um ein paar Phasen erweitert wird (siehe Abbildung). Die funktionale Gliederung einer IT-Service-Organisation folgt idealerweise dieser Grundstruktur.
Entlang den Geschäftsprozessen werden weltweit in allen IT-Organisationen unabhängig von der Branche mehr oder weniger die gleichen Leistungen erbracht. Lediglich deren Inhalte, respektive die Produkte, an denen diese Leistungen erbracht werden, und die Services, denen sie dienen, sind unterschiedlich. In der Aufgabengliederung einer IT-Organisation wird so das Leistungsportfolio definiert. Die Leistungen der Geschäftsprozesse - die wir in den Best Practices als Schlüsselaufgaben wiederfinden - müssen dazu den einzelnen Leistungsträgern, das sind Teams oder Schlüsselpersonen, eindeutig zugeordnet werden. Somit wissen alle, WER zu welchem Zeitpunkt WELCHE Leistung erbringt und wer welche Rolle hat, sprich welche Verantwortung für das Ergebnis trägt.
Ein weiterer Ausgangspunkt zur Verbesserung oder Optimierung der IT Services sind die definierten und strukturierten Produkte oder Services. Der Servicekatalog beschreibt die Leistungen und deren Zusammensetzung, das heisst deren «Rezeptur». Ohne eine sinnvolle Dekomposition des Serviceangebotes in die durch die verschiedenen Arbeitsplätze zu erbringenden Leistungen ist die Darstellung einer durchgängigen Leistungserstellungskette undenkbar. Mit dieser Darstellung weiss der Mitarbeiter, an welchem Zwischen- oder Endprodukt er arbeitet, und kann auch erkennen für wen, intern oder extern, er seine Leistung erbringt. In der weiteren Detaillierung können die Linienverantwortlichen sowohl die Quantität wie auch die Qualität der zu erbringenden Leistung planen.
Service Life Cycle als Kernprozess des IT-Betriebs
Es macht den Eindruck, dass es im Rahmen des Prozess-Engineering sehr wichtig geworden ist, dass sich jedes Unternehmen an ein Prozessmodell hält: Ein Prozessmodell, das sich häufig dadurch auszeichnet, dass es die Komplexität der realen Welt möglichst umfassend darstellt. Diese Darstellungen sollen den Entwicklern das Gefühl vermitteln, dass sie damit den darunter liegenden Arbeitsfluss unter Kontrolle halten können. Leider bleibt es vielfach bei dem Gefühl.
Bei all diesen technischen und abstrakten Darstellungen unserer Arbeitswelt wird nämlich das Wichtigste überhaupt vergessen: Der Mensch, der die Leistung erbringt, und der Mensch, der diese Leistung in seiner täglichen Arbeit verwendet.
So ist es um ein Vielfaches wichtiger, darzustellen, wie die Menschen mit ihren verschiedenen Verantwortungen für ein Ergebnis zusammenarbeiten. Das bedeutet, wir brauchen eher Rollenmodelle anstatt Prozessmodelle. Darin sind die Geschäftsvorfälle aus der Sicht von Rollen und deren Kommunikation und Interaktion mit anderen Rollen abgebildet.
ITIL nennt die erforderlichen Verhaltensweisen und die damit verbundenen Skills deutlich. So ist es nicht erstaunlich, dass an erster Stelle die Kommunikation zwischen den verschiedenen internen und externen Partnern steht. Servicemanagement funktioniert schlichtweg nicht in einer Organisation, in der sich die Kommunikation unter Kollegen darauf beschränkt, sich über den Schreibtisch E-Mails zu senden. Die Verhaltensänderung ist denn auch die weitaus grösste Herausforderung für technisch orientierte Serviceorganisationen wie IT-Abteilungen. Eine Veränderung, die ganz oben beginnt und auch da wieder endet.
Wenn nun diese Grundstrukturen bekannt sind, sind die wichtigsten Voraussetzungen für den Beginn und die erfolgreiche Umsetzung der Service-Management-Initiative geschaffen. Mit diesen Zuordnungen wächst das Selbstvertrauen der einzelnen Leistungseinheiten, seien dies Teams oder einzelne Schlüsselpersonen. Sie können ihren Beitrag zum Ganzen erkennen und erkennen damit auch dessen Bedeutung.
Wichtig ist zu erkennen, dass die Service-Management-Funktionen nach ITIL keinen Ersatz für die Geschäftsprozesse sein können. Ein Geschäftsvorfall befindet sich nicht im Incident-Management-Prozess oder im Service-Level-Management-Prozess, sondern in der Operations-&-Optimize-Phase oder in der Phase der Requirement Definitions.
Walter Vogt ist Gründer des Schweizer Ablegers der ITIL Nutzervereinigung itSMF, Geschäftsführer der Basler Beratungsfirma Perseo Consult und Autor des Fachbuches «fIT for benefit». Zur Zeit sind weltweit etwa 2500 Personen im Besitz eines Zertifikates «Servicemanager ITIL».