Als Computer noch Maschinen waren
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/08
Es war wie das Anwerfen eines Kraftwerks. Der Boden des Rechenzentrums zitterte, Ventilatoren wühlten die Luft auf, Magnetplatten sangen das hohe C. Ich drückte die Taste IPL, "Initial Program Load". Das Betriebssystem hob ab, Myriaden von Lämpchen tanzten auf der Front der Maschine, die Konsolschreibmaschine trommelte kryptischen Code. Hastig türmte ich Lochkarten auf Gleitschienen, ratternd verschwanden sie im Schlund des Lesers. Ich fütterte weitere Kartenbündel, rote, grüne, blaue: Job-Control, Programm, Daten. Als der Schnelldrucker eine Programmliste und Fehlermeldungen auf endloses Zebrapapier schmetterte, sank ich erschöpft in einen Sessel. Eine Stunde Rechenzeit auf einer IBM/360, das war Computer total.
Nur wenige Male kam ich zur Ehre, "hands on" an einem der Grosscomputer zu arbeiten, die sonst im Rechenzentrum von Operators "closed shop" gefahren wurden. Datenverarbeitung funktionierte in der Computer-Frühzeit noch wie ein industrieller Fertigungsprozess: Lochkarten mit Auftragsformular am Schalter abliefern, Stunden oder Tage später den Output abholen. Doch die Entwicklung zum heutigen Universalgerät kündigte sich schon an: Das System IBM/360 war für technisch-wissenschaftliche wie auch kaufmännische Anwendungen konzipiert. Die nach oben offene Modellreihe setzte den ersten Industriestandard. Big Blue beherrschte zwei Drittel des Marktes, war Industrie und Standard zugleich.
Am 7. April 1964 hatte IBM auf der ganzen Welt gleichzeitig sechs Modelle mit unterschiedlicher Leistung angekündigt, von der IBM/360-30 mit 64 Kilobyte Hauptspeicher und einem Megaherz Takt bis zur IBM/360-75 mit 512 Kilobyte und fünf Megaherz. "Das Ereignis markiert das Ende der Pionierzeit der elektronischen Datenverarbeitung", erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeiter. Zuvor war jeder Computer eine Neuschöpfung mit eigener Systemstruktur, Peripherie und Software gewesen.
Die Windrose im Logo bekräftigte den Anspruch, alle Datenprobleme der Welt mit einer universellen Rechnerarchitektur zu lösen. Die Zahl 360 stand für die 360 Grade des vollen Kreises. Neu war auch der Begriff "Architektur" im Computerbau, eine für alle Modelle gültige Spezifikation, während sich "Design" und "Implementierung", also die technische Ausführung, der aktuellen Technologie anpassen konnten. Eine klare Trennung von logischer und physischer Struktur war das Ziel.
Per Zufall kam ich als Ingenieur und technischer Programmierer zu meiner historischen Operating-Erfahrung auf einer IBM/360, die sich später in meinem ersten Roman "Jede Minute kostet 33 Franken" niederschlug. In dem Buch spielt ein geheimnisvoller roter Pilzknopf auf der Front der Maschine eine Rolle, der "Emergency Switch". Man dürfe diese Notbremse nur im äussersten Notfall ziehen, etwa wenn Rauch aus der Maschine qualme, wurde uns im Grundkurs eingeschärft. Was dann geschehen würde, wusste niemand so genau. Ich musste ihn nicht betätigen, konnte nach einer Stunde schweissgebadet meine Lochkartenschachteln, Zebrapapierpakete, Magnetplattenstapel und Bänder auf einen Transportwagen laden und den Krawattenknopf festziehen. Alles war rund gelaufen, die IBM/360 nicht in Flammen aufgegangen.