Editorial

Open Source: Scheitern kostet nichts


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/19

     

Organisationen, die Innovationen fördern wollen, sollten sich darauf konzentrieren, die Kosten von Misserfolgen zu reduzieren – und nicht darauf, die Wahrscheinlichkeit von Misserfolgen zu minimieren, wie es heute die meisten Unternehmen tun. Diese Ansicht vertritt Clay Shirky, Professor an der New York University und Experte in «Social Software». Zu dieser Einsicht ist er aufgrund der überraschenden Resultate einer Analyse der Open-Source-Bewegung gekommen. Open-Source-Software kann von jedermann angeschaut, modifiziert und transformiert werden. Ein zentrales Repository für solche Software ist SourceForge (www.sourceforge.net). Darin sind über 122’000 Open-Source-Projekte gelagert. Shirky hat nun herausgefunden, dass die populärsten Produkte – diejenigen, die auf SourceForge mit einem Aktivitätsquotienten von 100 Prozent bezeichnet werden – millionenfach heruntergeladen werden. Ein Beispiel dafür ist die Multiprotokoll-Instant-Messaging-Software Gaim. Bei niedrigerem Aktivitätsquotienten nehmen die Downloads dann dramatisch ab. Bei einem Quotienten von 99 Prozent ist die Download-Rate noch in den Tausendern. Bei einem Quotienten von 90 Prozent werden noch einige Dutzend heruntergeladen, und von 75 Prozent abwärts bis Null finden sich Zehntausende von Programmen, die nicht ein einziges Mal heruntergeladen werden. «Wir orientieren uns völlig an den Erfolgsgeschichten – Linux und Firefox etwa. Aber der Normalfall bei Open-Source-Software ist der Misserfolg», erklärte Shirky an der Aula2006-Konferenz in Helsinki.






Heisst das, dass die ganze Open-Source-Sache eine Übertreibung ist? Nein. «Open Source ist nicht wichtig trotz der Misserfolge, sondern wegen ihnen», ist Shirky überzeugt. Seine Argumentationslinie ist folgende: Wenn man wirklich neue Ideen hat, ist es schlicht unmöglich, Erfolg und Scheitern vorherzusagen. Die heutige Geschäftswelt allerdings will die Innovationsprozesse «optimieren», um so die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns zu verringern. Ein solches Vorgehen ist im Vergleich zu Open-Source-Ökosystem schwer im Nachteil. Denn letzteres «muss sich um nichts kümmern und kann alles ausprobieren, da die Kosten des Scheiterns von den Individuen an den Rändern des sozialen Netzwerks getragen werden, während ein Erfolg dem gesamten Netzwerk zugute kommt. Ökosysteme wie die Open-Source-Bewegung kostet das Scheitern nichts, und das führt unvermeidlich zu unerwarteten Erfolgsgeschichten wie Linux, die niemand vorhersagen konnte, die aber die Welt verändern», sagt Shirky. Ein Beleg dafür ist die Tatsache, dass Linus Torvalds, als er am
25. August 1991 auf der Suche nach Unterstützung bei der Entwicklung des nachmaligen Linux seine erste E-Mail verschickte, das Unterfangen als «einfach ein Hobby» bezeichnete. Da ein Unternehmen niemals die Kosten des Scheiterns auf Null reduzieren kann, ist die Geschäftswelt in keinem Fall in der Lage, so viel Scheitern «zu verdauen» wie ein soziales Netzwerk mit einem Open-Source-Ansatz, schlussfolgert Shirky.





Nach seinem Referat in Helsinki diskutierte ich mit ihm über die sozialen Kosten des Scheiterns. In Europa und vor allem in der Schweiz ist immer wieder zu hören, dass die sozialen Kosten bei einem Scheitern als Unternehmen hier signifikant höher seien als in den USA. Gemäss den Argumenten von Shirky müssten die europäischen Regierungen deshalb viel stärker diese soziale Stigmatisierung bekämpfen als auf irgendeine andere Art Anreize für unternehmerisches Handeln zu schaffen. Wir fragten uns dann, ob es in einem bestimmten Land eine Korrelation zwischen den sozialen Kosten des Scheiterns und dem Ausmass an Open-Source-Aktivitäten gebe. Beispielsweise ist Deutschland in Sachen Open Source extrem aktiv, stärker als fast alle anderen Länder weltweit. Könnte es sein, dass viele innovative und unternehmerische Deutsche in Open Source eine Nische gefunden haben, in der es sich lohnt, Energie zu investieren und Ideen auszuprobieren, weil die Kosten eines Scheiterns verschwindend tief sind?




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