Wissen aus dem Internet

Fünf global verteilte Universitäten beteiligen sich an der ersten internationalen Vorlesungsreihe über das Internet.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2003/22

     

Unter dem Titel "Artificial Intelligence Lectures" (AI Lectures) haben die Universitäten München, Peking, Tokio, Warschau und Zürich gemeinsam die erste internationale Vorlesungsreihe über das Internet gestartet. Das Projekt läuft seit den 4. November 2003 und dauert bis zum 27. Januar 2004. In dieser Zeit werden insgesamt acht Vorlesungen führender Wissenschaftler aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz und zwei Präsentationen zu Zukunftstrends und laufenden Forschungsprojekten in Japan gezeigt.
Die Vorträge werden live aus einem Hörsaal der Universität von Tokio gestreamt. In den vier anderen Universitäten kann das Ereignis über Grossleinwand interaktiv mitverfolgt werden. Jeder Anwesende in den fünf Hörsälen kann dabei aktiv in das Geschehen einwirken.
Die Vorlesungen werden ausserdem archiviert und können von der Homepage tokyolectures.org heruntergeladen werden. Da die Vorträge zeitversetzt stattfinden, gibt es auf der Website auch einen Chat und ein Forum, auf dem die Interessierten ihre Erfahrungen später austauschen können.


Herausforderung für Dozenten

Das Experiment, Vorlesungen zeitgleich in fünf Universitäten über acht Zeitzonen verteilt, auszustrahlen, erfordert einen immensen organisatorischen und technischen Aufwand. Die Initianten des Projekts sind die Professoren Rolf Pfeifer aus Zürich und Yasuo Kuniyoshi aus Tokio. Die beiden zählen zu den führenden Protagonisten der künstlichen Intelligenzforschung, was zahlreiche veröffentlichte Bücher und Forschungsarbeiten belegen.




Rolf Pfeifer weilt zur Zeit in Tokio, von wo aus er das Projekt betreut und auch als Dozent tätig ist. Seine ersten Erfahrungen sind durchaus positiv. "Es ist einfach toll, wenn ich die Leute auf der ganzen Welt begrüssen kann", sagt Rolf Pfeifer, der sich jede Woche auf die "Global Virtual Lecture Hall" freut. Allerdings sind die Dozenten auch einer im Vergleich zu herkömmlichen Vorlesungen erheblich höheren Belastung ausgesetzt. "Einerseits muss man sich auf die Inhalte konzentrieren, andererseits muss man ständig den ganzen 'Virtual Space' im Auge behalten, um reagieren zu können, wenn sich jemand zu Wort melden will", so Pfeifer. Zu diesem Zweck steht dem Dozenten ein Monitor zur Verfügung, auf dem alle Sites - so werden die Übertragungen aus den einzelnen Hörsälen genannt - der Videokonferenz zu sehen sind. Ausserdem gibt es einen Bildschirm, der das sogenannten Application Sharing zeigt, also die Präsentation an sich. Dieses Application Sharing erfolgt mit Verzögerungen von teilweise bis zu drei Sekunden. Das macht es für den Vortragenden auch nicht einfacher, da er seine Geschwindigkeit ständig anpassen muss. Weiter muss er darauf achten, dass er einerseits ständig in die Kamera blickt und andererseits sich nicht allzu stark bewegt. Man will schliesslich den Studenten auf dem anderen Kontinent das Gefühl geben, dass man direkt zu ihnen spricht. "Ausserdem darf man die ganze Technologie nicht aus den Augen lassen", so Pfeifer weiter.


Immenser technischer Aufwand

Dem Dozenten steht ein Smartboard zur Verfügung, das ähnlich wie ein Hellraumprojektor funktioniert. Die Eingaben werden mit einem Stift gemacht. Allerdings scheint das Gerät nicht sehr absturzsicher zu sein. "Dieses Smartboard hat viele nette Features, die man allerdings fast alle ausschalten muss, wenn es noch funktionieren soll", sagt Pfeifer, der sich erstaunt zeigt, dass man schon hier an die Grenzen der Technologie stösst. "Allerdings", relativiert der Professor, "sind die technischen Probleme zwar sehr substantiell und kompliziert, es geht aber vor allem auch um das Zusammenspiel von Menschen, Organisation und Technologie."



Für die Audio-, Video- und Datenkommunikation wird ein IP-basiertes Netzwerk nach dem Standard H.323 verwendet. Dabei wird bei Switch in Zürich die MCU (Multipoint Control Unit), die für Mulit-Point-Videokonferenzen nötig sind, genutzt. Bei jeder Site sind ein bis zwei Kameras und zwei Mikrofone installiert. Ausserdem braucht es bei jeder Site einen Codec für die Komprimierung/Dekomprimierung. Während einer Vorlesung sind immer vier Systeme parallel im Einsatz: Das eigentliche Video-Conferencing-System mit Bild und Audiosignal, das Application Sharing, mit dem man die Präsentation in der Virtual Lecture Hall steuern kann, und mit dem man von jeder Site aus Präsentationen zeigen kann. Weiter ist ein Instant-Messaging-System vorhanden, auf dem die Techniker Informationen austauschen können, und schliesslich das technisch sehr aufwändige Live-Video-Streaming-System, das es erst ermöglicht, die Vorlesungen von jedem Ort auf dem Globus online zu verfolgen. An der Tokio-Site, von wo aus die Präsentationen ausgestrahlt werden, braucht es zusätzlich einen Video-Mixer zur Steuerung der Inhalte, die ins Conferencing-System einfliessen sollen.




Die wichtigste Komponente für Videokonferenzen ist aber das Soundsystem. Und dieses verursachte bisher auch die meisten Probleme, die aber allesamt auf einfache technische Schwierigkeiten wie Feedback-Schlaufen, Frequenzstörungen oder Rückkopplungen zurückzuführen waren.


Eine Million Initialkosten

Bei all dem technischen, organisatorischen und personellen Aufwand, stellt man sich natürlich zu Recht die Frage nach den Kosten. Die Initialkosten sind relativ hoch. "Für eine Qualitätsausrüstung muss man mit 30'000 bis 40'000 Franken pro Site rechnen", verrät uns Pfeifer. Am Ausstrahlungsort sind die Kosten noch höher. Hinzu kommen die Projektmanagerin (60'000 Franken), die Website (10'000 Franken) und der Technologie-Chef (20'000 Franken).




Das Projekt wird zusätzlich von verschiedenen Seiten sozusagen in Fronarbeit unterstützt. Allein in Tokio sind zum Beispiel 6 Doktoranden und eine Technik-Chefin mit dabei. Insgesamt arbeiten rund 70 Personen an dem Experiment mit. Pfeifer selbst hat bisher mindestens vier Arbeitsmonate investiert. "Würde man all diese Kosten zusammenzählen, käme man auf weit über eine Million Franken", rechnet Pfeifer vor. Allerdings müsse man bei der Kostenberechnung vorsichtig sein, da die meisten Aufwendungen einmalige Kosten sind, die teilweise auch durch Sponsoring abgedeckt sind.


Positive Zwischenbilanz

Die Studenten haben das Projekt bis jetzt mit grosser Begeisterung aufgenommen, was auch die vielen positiven Zuschriften beweisen, die die Initianten erhalten. Allerdings räumt Pfeifer ein, dass er sich nicht sicher ist, ob wirklich der gewünschte "Sense of Presence" erreicht werden kann: "Ich bin mir vorderhand nicht sicher, ob beispielsweise die Studierenden in Bejing oder München wirklich den Eindruck haben, dabei zu sein." Diese und weitere Fragen bleiben offen. Zum Beispiel die Frage nach dem Lerneffekt. Bildet sich eine AI Community? Lernen sich die Studierenden vor Ort und an anderen Sites kennen? Gibt es kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung der Lernenden? Wie wird der Event-Charakter beurteilt? Stellt die Unterrichtssprache (Englisch) ein grosses Hindernis dar? Auf diese und andere Fragen erhofft sich Pfeifer Antworten, wenn es darum geht, nach Abschluss des Projekts zusammen mit der Evaluierungsstelle Swiss Virtual Campus ein Fazit zu ziehen.



Aufgrund der endgültigen Evaluationen wird entschieden, in welcher Form die gewonnen Erfahrungen weiterverwendet werden. Rolf Pfeifer könnte sich beispielsweise vorstellen, dass das Know-how, das sich bei den am Projekt Beteiligten akkumuliert hat, rezykliert wird. Dies könnte etwa in Form einer Spin-off-Firma geschehen, die eng mit den Universitäten und anderen Lehrinstituten zusammenarbeitet.




Ausserdem soll das Ganze auch auf andere Fächer ausgedehnt werden. Weiter steht das Verfassen eines Manuals auf dem Zukunftsplan, das eine Art Bedienungsanleitung für Leute, die ebenfalls solche Projekte durchführen wollen, werden soll. Die Initianten überlegen sich auch, wie sie die Community weiter fördern können und hoffen, Kooperationen unter den beteiligten Instituten in die Wege leiten zu können. Geplant ist auf jeden Fall eine Zusammenarbeit mit Studentenaustausch zwischen den Universitäten Tokio und Zürich.


Wissen für alle

Für die neue Lehrmethode prognostiziert Rolf Pfeifer grundsätzlich eine rasche Verbreitung, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind: "E-Learning muss zusammen mit Offline-Systemen angeboten werden. Es muss ein echter Anreiz bestehen, sich online zuzuschalten." Dies haben die Initianten von AI Lectures über den Event-Effekt versucht und auf diese Art wird ein gewisses Edutainment angeboten, was die Lernmotivation erhöhen soll. Das wichtigste seien aber die Inhalte, die vermittelt werden, erklärt Pfeifer. Das Thema Artificial Intelligence eigne sich beispielsweise hervorragend, da es sich visuell und auch sinnlich vorführen lasse.



Pfeifers Hoffnung besteht unter anderem darin, dass man mit Hilfe von Technologie einen Beitrag zur globalen und gerechten Wissensgesellschaft leisten kann. "Auf diese Weise könnte man Wissen vermitteln und dieses auch Menschen verfügbar machen, die aus finanziellen oder anderen Gründen keinen Zugang haben wie zum Beispiel in Entwicklungsländern."




Allerdings steht man noch ganz am Anfang. "Damit sich E-Learning wirklich etablieren kann, muss die Technologie wesentlich verbessert werden", sagt Pfeifer abschliessend. Bleibt anzufügen, dass für einen Einsatz in Entwicklungsländern auch die Infrastrukturkosten massiv gesenkt werden müssten.




Artikel kommentieren
Kommentare werden vor der Freischaltung durch die Redaktion geprüft.

Anti-Spam-Frage: Was für Schuhe trug der gestiefelte Kater?
GOLD SPONSOREN
SPONSOREN & PARTNER