Speed Reading: Schnell gelesen – Zeit gespart
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/32
Wer kennt es nicht? Auf dem Schreibtisch stapeln sich Berge ungelesener Zeitungen, ungeöffneter Briefe, Zeitschriften, Handbücher, Protokolle, und in der Mailbox häufen sich die ungelesenen Nachrichten. Doch die Zeit ist knapp und der Terminkalender randvoll mit Kundengesprächen, Sitzungen, Telefonaten und anderen wichtigen Terminen. Also kümmert man sich nur um das Allerwichtigste, öffnet die aktuelle Post und legt das Meiste auf den Stapel zu dem anderen Ungelesenen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, redet man sich ein und so wird der Stapel von Tag zu Tag höher.
Damit diese Szenarien endlich ein Ende haben, gibt es Techniken und Strategien, die sich jeder selbst aneignen kann, um Lesearbeit schneller zu erledigen. Lesen als Arbeitsinstrument kann - wie jedes andere Werkzeug auch - verbessert werden. Der Nutzer kann es sichern und entstören, pflegen und beschleunigen.
Im Durchschnitt lesen wir vier Wörter pro Sekunde, das ergibt 240 Wörter pro Minute. Wenn man häufig liest, lässt sich diese Geschwindigkeit auf 720 Wörter pro Minute steigern. Das entspricht etwa drei Seiten in einem Taschenbuch. Und dann gibt es Methoden, um die Lesegeschwindigkeit um ein Vielfaches zu steigern, im Höchstfall sogar bis auf 3850 Wörter pro Minute wie der derzeitige Weltrekordhalter im Speed Reading, Sean Adams, zeigt. Er liest rund 16 Mal schneller als ein Normalleser.
Schnelllesen gibt es seit dem ersten Weltkrieg. Damals wurde es eingesetzt, um den Piloten der britischen Royal Air Force das Erkennen der verschiedenen feindlichen Flugzeugtypen aus entsprechender Entfernung zu vereinfachen. Dafür entwickelten einige findige Strategen das Tachistoskop: eine Art Diaprojektor, der die Bilder in unterschiedlich kurzen Zeitabständen an eine Wand projiziert. Man begann erst mit grossen Bildern, verkürzte dann nach und nach die Zeit der Projektion und verringerte den Blickwinkel sowie die Grösse des Bildes.
Mit der Tachistoskopmethode wurden Lesegeschwindigkeiten von 400 Wörtern pro Minuten erreicht.
Nachdem die Amerikanerin Evelyn Wood in den 50er Jahren mit ihrem Schnelllese-Konzept Reading Dynamics berühmt wurde und unter andern John F. Kennedy trainierte, bietet sich heute ein buntes Bild in der Leseoptimierung.
Es kursieren rund ein Dutzend verschiedener Konzepte allein in Deutschland und der Schweiz. Eines der bekanntesten ist sicher das sogenannte Speed Reading. Dazu wird das innere Mitsprechen ausgeschaltet und ein Finger fährt beim Lesen in einer klar definierten Linie über die Seite. Das, so haben Trainer herausgefunden, löst eine Nervenaktivität im Gehirn aus, die die Subvokalisierung ersetzt. Damit wird das Schnelllesen zu einer rein optischen Textaufnahme. Eine weitere Art des Geschwindigkeitslesens ist Photo Reading. Das besondere Kennzeichen dieses Systems ist das ganzheitliche Aufnehmen, das "mentale Photografieren" der Druckseite mit einer Geschwindigkeit von mehr als einer Seite pro Sekunde. Alpha Reading hingegen enthält, wie das so genannte Photo Reading, die wesentlichen Elemente des Flächenlesens, nur die Herangehensweisen sind unterschiedlich.
Beim Flächenlesen, geht es allerdings nicht allein um Geschwindigkeitslesen, sondern um das Lernen, mehr, gründlicher und interessierter pro Zeiteinheit zu lesen. Eine weitere Methode ist das Prime Reading, das eine 3- bis 300-fache Steigerung durch intuitives Verständnis verspricht, wobei die Methodik unklar ist. Zu all den genannten Methoden wurden unzählige Bücher geschrieben.
Auch die Softwareindustrie hat diese Lücke entdeckt. So gibt es diverse PC-Programme, die zur Lesesteigerung führen wollen. Software wie Lectra animiert zu Augenübungen, ein einfaches Gitternetz als Lesehilfslinien zeichnet Avica Lines auf den Monitor. Andere Programme wie Vortex IV projizieren einen Text rapide Wort für Wort auf den Bildschirm. Und der AceReader lässt Zeilen rasend schnell herunterscrollen. Insgesamt versprechen alle diese Methoden ein mehrfaches Lesetempo ohne Informationsverlust. Aber auch ein Lesen, bei dem die Emotionen auf der Strecke bleiben. Weil der Schnellleser die Wörter nicht mehr innerlich klingen lässt, kann er nicht die Gefühle spüren, die aus dem Klang eines Wortes entstehen. Eines ist jedoch sicher: Richtiges oder falsches Lesen kann es nicht geben. Jeder sollte ausprobieren, welche Methode für sich selbst am effektivsten ist.