Killerdroge Arbeit: Schuften bis zum Umfallen

Arbeit ist eine legale Droge, die bisweilen sogar zum Tod führen kann.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/26

     

Medikamenten-, Drogen- und Nikotinabhängigkeit sind bekannt. Doch wer kennt schon die Sucht nach Arbeit. Allerdings ist Arbeitssucht kein neues Phänomen. Schon 1919 widmete sich der Psychoanalytiker Sandor Ferenczi der Sonntagsneurose: Patienten, die am Wochenende nichts zu tun hatten, klagten über Kopfschmerzen und Übelkeit. Die Bezeichnung Workaholic schuf 1971 der Religionspsychologe Wayne Oates; er hatte auffällige Parallelen zum Alkoholismus entdeckt. 1990 hat das japanische Arbeitsministerium bestätigt, das Arbeitssucht zum Tod führen kann.
Die Japaner bezeichnen diese Krankheit als Karoshi, den Tod durch Überarbeitung. Hauptsächlich tritt der Tod durch Herzversagen, Herzinfarkte oder Hirnschläge ein. Rund 10'000 Menschen schuften sich in Japan jährlich zugrunde.




Genaue Zahlen über die Arbeitssucht gibt es nicht. In Deutschland sind es nach Schätzung des Psychologen Stefan Poppelreuter 100'000 bis 200'000 Menschen, die sich krank arbeiten. In der Schweiz ist mit ähnlichen Verhältnissen zu rechnen. In den USA gelten schätzungsweise 5 Prozent als Workaholics, denen das Arbeiten zum Zwang geworden ist. Bei einer Befragung von 4000 Top-Managern in den USA haben sich die meisten als hochgradig arbeitssüchtig bezeichnet. Ohne den Beruf kämen sie sich leer und nutzlos vor.


Was ist Arbeitssucht?

Psychologen verstehen unter Sucht eine krankhafte, zwanghafte Abhängigkeit von Stoffen. Diese ist verbunden mit dem Verlangen nach einer ständig erneuten Einnahme dieser Stoffe. Damit wird vor allem am Anfang ein Lustgefühl befriedigt. Nach einem regelmässigen Konsum entsteht eine physische oder psychische Abhängigkeit.



Arbeitssucht gehört zu der Gruppe der stoffungebundenen Suchtformen und wird deshalb oftmals vorschnell als weniger bedeutsam eingestuft. Bei genauer Betrachtung wird jedoch deutlich, wie wenig sich Arbeitssucht von anderen, längst anerkannten klassischen Suchtformen unterscheidet, insbesondere hinsichtlich der physischen, psychischen und sozialen Selbstzerstörung im Endstadium schwerer Abhängigkeit.




Typisch für das gestörte Verhältnis des Workaholikers zur Arbeit ist, dass er nicht aufgrund äusserer Umstände, sondern aus einem inneren Zwang heraus sinn- und ziellos vor sich hin werkelt. Für Arbeitssüchtige ist es beängstigend, sich einfach nur entspannt dem Nichtstun hinzugeben. Sie fürchten sich vor der inneren Leere und geben bereitwillig zu, dass das Arbeiten diese Gefühle von ihnen fernhält. Um dem entgegenzuwirken, werden Ferienkoffer mit Arbeitsunterlagen vollgepackt, um immer erreichbar zu sein bleibt das Handy auch beim abendlichen Restaurantbesuch in Griffweite, und in geselligen Runden lenkt der Workaholic das Gespräch immer wieder auf den Job - unfähig, eine unbeschwerte Privatkonversation zu führen. Um sich doch ein gewisses Mass an Entspannung zu verschaffen, greifen die Betroffenen zu Alkohol, Medikamenten und Drogen. Ähnlich wie bei jemandem, der alkoholabhängig ist, muss auch bei der Arbeitssucht die "Dosis" immer weiter erhöht werden, die Abstände dazwischen werden immer kleiner, und alle Gedanken kreisen nur noch um das Arbeiten.



Die Süchtigen arbeiten auch nachts und am Wochenende und übernehmen zusätzliche Aufgaben aus Angst, die Arbeit könnte ihnen ausgehen. Andere Interessen, Familie und Freunde werden vernachlässigt. Die dauernde Überbelastung kann zu schweren Krankheiten und psychischen Störungen wie beispielsweise Depressionen und Angstzuständen führen. Bei der Arbeitssucht verhält es sich wie bei allen Süchten: Die Betroffenen wollen sie nicht wahrhaben, denn die "Droge" Arbeit ist legal, und Vielarbeiter gelten in unserer leistungsorientierten Gesellschaft als Vorbilder.




Die drei Phasen der Arbeitssucht

Ein Workaholiker durchläuft die klassischen drei Stadien einer Suchtkarriere. In der Einleitungsphase dient die "Droge" Arbeit dazu, Spannungen abzubauen. Die Dosis wird allmählich gesteigert. Der Süchtige beginnt heimlich zu arbeiten und sucht nach Ausreden, um seine auffällige Aktivität zu rechtfertigen. Gleichzeitig nimmt die Qualität der Arbeit ab, und erste Überarbeitungssymptome werden sichtbar.



In der kritischen Phase wird das Arbeiten zum Zwang. Ein Vorrat an Arbeit wird angelegt, um Entzugserscheinungen zu vermeiden. Es kommt zu ersten Selbstheilungsversuchen, die scheitern. Die Überarbeitung tritt nun deutlich zutage.




In der chronischen Phase wird hemmungslos drauflos geschuftet. Der Süchtige verliert vollends die Kontrolle. Die Leistungsfähigkeit nimmt massiv ab. Es kommt zum körperlichen und seelischen Zusammenbruch.



Der Verlauf ist immer gleich. Die Ursachen hingegen können variieren. Generell aber lässt sich das Überengagement im Job auf jene Faktoren zurückführen, die sich auch bei jeder anderen Sucht herauskristallisieren: Eine gestörte Beziehungsfähigkeit in Verbindung mit einem unterentwickelten Selbstwertgefühl. Die Arbeit wird dazu benutzt, Gefühlsnöte zu überdecken und Sorgen vergessen zu machen. Die Folgen: Unrast und Angst vor Schwäche.




Suchtfolgen

Die rastlosen Arbeitssüchtigen schuften im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Umfallen. Die Symptome: Streben nach Vollkommenheit, Neigung zum Perfektionismus, alles soll anständig gemacht werden, ständiger Leistungsdruck, Angst und Stress, gefühlsmässige Verkümmerung, Selbstbezogenheit und Verstrickung. Der körperliche Raubbau fordert natürlich seinen Tribut. Die Dauerarbeiter sind ausgebrannt, körperlich und seelisch. Die Folgen sind Kreislaufstörungen, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Magengeschwüre, Herzinfarkt, Depressionen, Ängste, mitunter kann es sogar zu Selbstmordversuchen kommen. All diese Symptome zeigen arbeitssüchtige Menschen häufig auch in ihren Partnerschaften, was zu vielen konfliktträchtigen Situationen führt.



Es gibt keine Zahlen, aber es gibt unter Fachleuten die grosse Überzeugung für einen Zusammenhang zwischen Arbeitssucht und den hohen Scheidungsraten. Da arbeitssüchtige Menschen verstärkt nach beruflicher Verantwortung streben, verlieren sie allmählich ihre persönliche Verantwortung und damit ihre Fähigkeit zu menschlicher Nähe und Liebe. Intimität erfordert aber den gegenseitigen Austausch von Gefühlen und Macht.





Vorgesetzte sind speziell gefährdet

Besonders gefährdet sind Vorgesetzte, die viel Raum für freie Gestaltungsmöglichkeiten haben. Seltener tritt die Sucht bei Menschen mit festen Dienstzeiten auf. Arbeitssüchtige Menschen sind in allen Bereichen anzutreffen. Allerdings seien Arbeitsfelder mit einem hohen Grad an Selbständigkeit und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten eher suchtfördernd als enger gefasste Bereiche, Betroffene beziehen ihre Identität und ihre Sinnerfüllung fast ausschliesslich über die Arbeit. Das Libidinöse wird nicht mehr in der Partnerschaft ausgelebt, sondern über die Arbeit erlebt und erfahren. Dieser Ort ist stark verbunden mit Erlebnis und Abenteuer.





Nutzen oder Last für die Firma

Wer denkt, Workaholiker gelten geradezu als Geschenk für jeden Arbeitgeber, täuscht sich gewaltig. Das Gegenteil ist richtig. Arbeitssüchtige Chefs können eine Firma in den Ruin reiten, wie eine Studie beweist. Workaholics reissen alles an sich, haben überall die Finger im Spiel, machen vieles, aber nichts vernünftig. Wo die selbsternannten Sisyphusse auftauchen, werden auch gänzlich unbeteiligte Mitarbeiter in den Strudel sinnloser Geschäftigkeit hinein- und damit von ihren eigentlichen Aufgaben abgezogen. Das Ergebnis aber rechtfertigt in den seltensten Fällen das Handeln der Workaholics. Die Vielarbeiter, so zeigt die Praxis, verzetteln sich, die meisten können nicht delegieren und korrigieren unnötigerweise die Arbeiten anderer. Oft wirken sich ihr egoistisches Verhalten, die fehlende Selbstdisziplin, Intoleranz, ihre Nervosität und Arroganz negativ auf ihre Mitarbeiter aus. Typisch für die krankhaften Malocher ist ihr ausgesprochener Hang zum Perfektionismus. Eine fatale Konstellation: Weil sie auch dann weiter ackern, wenn die Leistungsgrenze längst überschritten ist, schleichen sich Fehler ein, die wiederum mit Mehrarbeit ausgebügelt werden müssen - ein Teufelskreis.





Was man gegen Arbeitssucht tun kann

Die Therapie ist schwierig, selbst wenn sich meist durch psychosomatische Gesundheitsstörungen oder einen Bruch in der Partnerschaft die Einsicht einstellt, dass Handlungsbedarf besteht. Abstinenz lässt sich nicht verordnen, aber um die Sinnfrage kommt man nicht herum. Meist ist auch eine Änderung der beruflichen Situation angesagt, im Extremfall sogar ein Stellenwechsel.












Interview mit einem Süchtigen



Andreas E. ist arbeitssüchtig. Der 40-jährige lebt in Deutschland, ist zum zweiten Mal verheiratet und arbeitet als Angestellter in der Erwachsenenbildung. Als Dozent für EDV unterrichtet er speziell als SAP-Certified Consultant für SAP R/3. Er hat seine Sucht erkannt und ist nun dabei, sie zu bekämpfen. Ein wichtiger Schritt dabei ist, sich seine Sucht einzugestehen. Er hat InfoWeek Fragen zu seinem Suchtverhalten beantwortet.


InfoWeek: Wie viele Tage arbeiten Sie pro Woche? Wie viele Stunden pro Tag?


Andreas E.: Meist sechs Tage mindestens 10 Stunden. Hin und wieder aber auch schon mal 14 bis 16 Stunden.


IW: Wann hatten Sie das letzte Mal Ferien OHNE Notebook und Handy?

Andreas E.: 10 Tage im Januar auf Usedom - aber nachdem wir zu Hause waren, wurde als erstes der PC angeschaltet, und weiter ging es.


IW: Wie kam es zu Ihrer Sucht?

Andreas E.: Es ging eigentlich schon sofort nach der Ausbildung los und nahm dann immer mehr zu - vor allem, nach dem ich auch sehr jung Abteilungsleiter wurde. Ich bekam einen eigenen Dienstwagen, machte viele Dienstreisen und wohnte in schicken Hotels. Das war auch gut fürs Ego.


IW: Hat niemand Ihre Sucht erkannt und Sie gewarnt?

Andreas E.: Eigentlich nein, im Gegenteil - meine Karriere und mein Erfolg wurden überall anerkannt.


IW: Ergab sich durch diese Sucht ein "sozialer Verlust"?

Andreas E.: Ja, zunächst die Scheidung von meiner ersten Frau. Danach fiel ich in ein tiefes Loch - das habe ich mit immer mehr Arbeit kompensiert. Der Freundeskreis wurde immer kleiner, da ja keine Zeit für private Unternehmungen da war.


IW: Stellten sich auch Auswirkungen auf Ihr Wohlbefinden und Ihre Gesundheit ein?

Andreas E.: Seit zirka 15 Jahren habe ich am Wochenende und an freien Tagen massive Migräne. Dazu kommen Magenprobleme durch andere "begleitende Süchte" wie unregelmässiges Essen, Unmengen von schwarzem Kaffee, zuviel Nikotin (40 bis 60 Zigaretten täglich) und Alkohol, um zur Ruhe zu kommen.


IW: Wann und wie haben Sie die Sucht als solche erkannt?

Andreas E.: Im Januar, als ich mit meiner Frau auf Urlaub war. Sie hat mich in langen und ernsten Gesprächen auf unsere Beziehungsprobleme und meine Arbeitswut hingewiesen, und hat mir mit klaren Konsequenzen gedroht. Sie sagte: "Tu etwas gegen deine Sucht oder ich gehe!"


IW: Was tun Sie dagegen?

Andreas E.: Ich habe gemeinsam mit meiner Frau eine Eheberatung aufgesucht. Dort hat man mich an eine Drogenberatungsstelle verwiesen - nach 4 Gesprächen bin ich nicht mehr hingegangen, da ich den Eindruck hatte, dass es mich nicht weiter bringt.


IW: Verfolgen Sie Ihre "Strategien" erfolgreich?

Andreas E.: Na ja, zumindest ist mir mein Problem bewusster geworden, und ich habe begonnen, mich damit auseinander zu setzen. Erfolgreich? och nicht - aber ich denke, was sich über Jahre entwickelt hat, braucht viel Zeit, um geändert zu werden.


IW: Belastet Sie diese Sucht überhaupt, oder sind Sie Stolz darauf, arbeitssüchtig zu sein?

Andreas E.: Auf der einen Seite bin ich stolz darauf, viel und gute Arbeit zu leisten. Jedoch spüre ich oft auch Konflikte in meiner Partnerschaft, die mir sehr wichtig ist, und ich versuche dann, etwas die Bremse zu ziehen. Jedoch ist Arbeit für mich nach wie vor sehr wichtig! Ich versuche jedoch, Arbeit und Privatleben etwas gerechter zu werden.


IW: Was heisst für Sie, das Leben zu geniessen?

Andreas E.: Tja, das ist eine gute Frage - ich habe wieder begonnen, Sport zu machen und spiele einmal die Woche Badminton. Ich kümmere mich etwas mehr um meine Frau. Aber viele meiner Hobbies, wie beispielsweise Programmieren oder das Erstellen von Homepages sind fast schon wieder Job.




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