Erfolgreiche ICT-Zusammenarbeit mit Indien

Damit Schweizer Firmen erfolgreich in Outsourcing-Projekten mit indischen ICT-Anbietern zusammenarbeiten können, ist gegenseitiges Verständnis unabdingbar.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2010/07

     

Neulich in der südindischen Stadt Chennai: Eine Gruppe von zwanzig indischen Softwareingenieuren und Projektleitern nimmt an einem Seminar zur schweizerischen Kultur und Geschäftsmentalität teil. Der Seminarleiter fragt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, was sie an der Zusammenarbeit mit ihren schweizerischen Kunden angenehm finden und was schwierig. Was die Anwesenden antworten, reicht von schmeichelnden Aussagen wie «die Schweizer sind freundliche Menschen und gute Zuhörer» bis zu Klagen wie «sie trauen uns nicht, und sie trauen uns nichts zu!».


Eine Woche später steht derselbe Seminarleiter vor Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines Schweizer Finanzdienstleisters. Dessen IT-Abteilung arbeitet schon seit mehreren Jahren in grösserem Umfang mit indischen Firmen in Chennai, Bangalore und Kolkata. Die Zusammenarbeit wird allgemein als produktiv und partnerschaftlich beschrieben. Doch im Arbeitsalltag gibt es immer wieder Probleme – kulturell bedingte Missverständnisse, insbesondere wenn es um Kommunikation und Führung geht.


Daher möchten die Mitarbeitenden der Schweizer Firma die indische Kultur und Mentalität verstehen. Auch hier lauten die Aussagen auf der einen Seite des Spektrums ähnlich: «Die Inder sind zuvorkommende und angenehme Menschen.» Doch auf der anderen Seite lautet es: «Man arbeitet wie in eine Blackbox hinein. Ich weiss nie so recht, ob sie mich verstanden haben, ob sie die Anforderungen erfüllen und Termine einhalten werden.»


Unterschiedliche Auffassung

In der Tat sind es genau diese drei Faktoren, die für eine gelingende Zusammenarbeit entscheidend sind:


-Kommunikation


-Führung


-Zeit


Aus schweizerischer Sicht wird mit den indischen IT-Lieferanten ausreichend kommuniziert, man will schliesslich nicht ins Mikromanagement verfallen. Auf indischer Seite macht sich aber das Gefühl breit, dass entscheidende Informationen vorenthalten werden. Bei der Führung von Mitarbeitenden setzt man in der Schweiz auf einen partizipativen Stil sowie auf die weitgehende Selbständigkeit des Einzelnen. In Indien dagegen wird klar hierarchisch geführt.


Das unterschiedliche Zeitverständnis wird durch folgenden anekdotischen Klassiker veranschaulicht: Ein indischer und ein Schweizer Geschäftsmann reisen im Flugzeug. Sie sitzen nebeneinander und kommen ins Gespräch. «Woher kommen Sie?», fragt der Inder. Als er die Antwort seines Nachbarn hört, sagt er: «Ach, aus der Schweiz? Das ist aber ein schönes Land!» – «Ja», antwortet der Schweizer, «und wir machen die genausten Uhren der Welt», sagt er stolz und erkundigt sich: «Und woher kommen Sie? Aus Indien? Oh, da war ich auch einmal auf Geschäftsreise. Das war ja mühsam! Überall diese Warterei. Überall Verspätungen. Sagen Sie, wieso geht bei Euch alles immer so langsam?» Der Inder überlegt kurz und sagt: «Wissen Sie, Sie haben zwar die Uhren. Aber wir haben Zeit!»


Inder haben unbewusst ein Zeitbudget von 311 Billionen Jahren, um ihr Karma zu erfüllen. Bei einem solchen Zeitbudget kann man es also unmöglich eilig haben. Sich an Termine zu halten, kann kaum das Wichtigste im Leben sein. Für Kunden und Partner im Westen aber ist dies sehr problematisch!


Indische Lebensabschnitte

Gewiss, das indische Alltagsleben trägt in den grossen Städten zunehmend westliche Züge. Aber die meisten Inder halten an traditionellen Werten und Gewohnheiten fest. Auch ihr Menschen- und Weltbild verändert sich nur sehr langsam. Zum Beispiel ist das Leben eines einzelnen Menschen nach indischer Vorstellung in vier Abschnitte unterteilt: Im ersten Lebensabschnitt – oder Ashrama – lebt man im so genannten Schülerbewusstsein; der Mensch lernt noch und braucht einen Lehrer, Mentor oder Chef, der ihn durch die wichtigen Dinge im Leben führt. Es folgt ein Lebensabschnitt im Bewusstsein einer verheirateten Person, die Verantwortung trägt, jüngere Menschen (vorab die eigenen Kinder) ins Leben einführt, sich so Führungskompetenz aneignet und sich erst dadurch für eine leitende Position im Beruf qualifiziert. Später entwickelt sich ein Bewusstsein des Rückzugs vom Materiellen und schliesslich das Bewusstsein des Abschieds von allem Weltlichen.


Die meisten Personen, die in der indischen IT-Branche arbeiten, gehören zu den ersten beiden Lebensabschnitten: Schüler oder verheiratete Person. Eine Umfrage, die vor vier Jahren bei indischen IT-Firmen durchgeführt wurde, ergab, dass die jungen, unverheirateten und wenig lebenserfahrenen Inder ihren Chef mindestens alle zwei Tage sehen und von ihm geführt werden wollen. Sei dies nicht gewährleistet, fühlten sie sich unsicher, ob sie das Richtige zur rechten Zeit tun. Jene indischen Mitarbeiter dagegen, die verheiratet und Eltern sind, sagen, dass es ihnen genügt, den Chef einmal pro Woche zu sehen.


Tatsächlich befördern die meisten indischen Firmen selten jemanden in eine Führungsposition, der unverheiratet und kinderlos ist. Es wird zwar argumentiert, dass sich die indische Gesellschaft dank dem wirtschaftlichen Aufstieg rasant verändert. Gerade in den wissensbasierten Branchen (IT, BPO, Pharma etc.) setze sich ein neuer, flacher und eher westlicher Führungsstil durch. Allerdings arbeiten lediglich fünf Prozent (23,5 Millionen) Personen in diesen modernen Branchen. Dies ist eine kleine Minderheit der insgesamt 470 Millionen erwerbstätigen Inder.


Historisch bedingt

Indien hat eine Bevölkerungsgrösse von beinahe 1,2 Milliarden Menschen erreicht. Die überwältigende Mehrheit von ihnen ist nach wie vor von Werten und Traditionen durchtränkt, die über 5000 Jahre alt sind. Sie sind Teil einer Kultur, die durch keine historischen Ereignisse grundlegend verändert wurde. Das kollektive Gedächtnis Europas dagegen erinnert sich an die Errungenschaften von Reformation, Aufklärung und französischer Revolution. Die beiden Weltkriege bedrohten den europäischen Menschen zwar mit einem Rückfall in barbarische Zeiten, doch auch daraus hat er seine Lehren gezogen. Der Begriff der Führung ist seither mit Generalverdacht belegt, vor allem in der deutschen Sprache. Wie dankbar ist man für den englischen Begriff «Leadership»! Die Kultivierung der Volksrechte, die in der Schweiz durch die direkte Demokratie verstärkt wurden, haben vor allem aus dem deutschsprachigen Europäer einen Menschen gemacht, der nur hinter vorgehaltener Hand führt: unauffällig und unaufdringlich. Er drängt weder sich, noch seine Meinung, noch seinen Willen anderen auf. Er versucht, mit gekonnten Argumenten zu überzeugen und zu motivieren.



«No problem», aber ...

Diese Unterschiede werden in der schweizerisch-indischen Zusammenarbeit sichtbar. Ein Schweizer Projektleiter fragt sein indisches Teammitglied: «Kannst du diese Arbeit bitte bis nächsten Dienstagabend fertigstellen?». Worauf der indische Kollege – ein smarter, junger Ingenieur mit hervorragendem Hochschulabschluss – antwortet: «No problem.». Der Projektleiter ist zufrieden. Denn sein Schweizer Ohr übersetzt die indische Antwort wörtlich und geht davon aus, dass der indische Kollege eigentlich «ja» gesagt hat. Am Donnerstag, also bereits zwei Tage nach dem vermeintlich vereinbarten Termin, wundert sich der Projektleiter, dass sein indischer Kollege weder die fertige Arbeit noch eine Verspätungsmeldung geschickt hat. Er fragt freundlich nach. Auch diesmal erhält er dieselbe Antwort, aber der Tonfall des indischen Kollegen deutet darauf hin, dass der Satz noch nicht fertig ist: «No, there is no problem, …». «Aber?», will er es nun genauer wissen und hört am anderen Ende der Telefonleitung: «Es ist nur so, dass mein Chef auf Geschäftsreise ist.».

Natürlich ist der Projektleiter frustriert. Er hat einmal gelernt, Teammitglieder so zu führen, wie wenn es ihn selber gar nicht bräuchte, ausser um unangenehme Entscheidungen zu fällen und das Team vor dem Management abzuschirmen. Jedes Teammitglied führt sich selbst, handelt eigenverantwortlich und bringt das für die Arbeit nötige Wissen mit. Wenn man sich nicht gerade für die alle zehn Tage stattfindende Projektsitzung trifft, ist der Projektleiter ein Teammitglied wie jedes andere auch. Daher geht der Projektleiter davon aus, dass auch sein indisches Teammitglied sich sofort und ohne nachzufragen melden würde, gäbe es irgendwo ein Problem.


Doch der indische Kollege – jung, unverheiratet, im Schülerbewusstsein und an wohlwollende, aber direktive Führung gewöhnt – empfindet den Führungsstil seines Projektleiters als schwach: Ein Chef, der sogar seine tiefste Entschlossenheit oder seinen Ärger immer nur mit einem freundlichen Gesicht zeigt, kann nichts anderes sein als ein einfaches Teammitglied: jung, unerfahren und ohne Autorität. Deswegen wartet das indische Teammitglied darauf, dass sein zwar strenger Chef von seiner Reise zurückkehrt und ihm ganz einfach sagt: «Du kannst die betreffende Arbeit erledigen. Aber frag deinen Projektleiter in der Schweiz, wie du sie erledigen sollst. Und halte den Termin ein!».


Der
Autor

Waseem Hussain ist Geschäftsführer der Firma Marwas (www.marwas.ch). Der 44-Jährige ist Schweizer Bürger, stammt von einer indischen Familie ab und ist in Zürich aufgewachsen.




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