Teile der Informatik in die Allgemeinbildung einbringen
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2010/05
Versuchen wir zunächst, die Frage «Was ist Informatik?» zu beantworten. Eine genaue Beschreibung einer wissenschaftlichen Disziplin zu liefern, ist schwierig. Üblicherweise wird versucht, Informatik mit der folgenden Aussage zu erklären:
Obwohl diese Definition die Information und den Algorithmus als Hauptgegenstand der Informatik darstellt, sagt sie nicht viel über die Informatik und ihre Methoden aus. Viel wichtiger für die Klärung des Wesens der Informatik ist die folgende Frage:
Die Antwort auf diese Frage offenbart auch die Methodik und die Beiträge der Informatik Die Informatik lässt sich diesen Wissenschaftsgruppen nur bedingt zuordnen. Sie besitzt die Aspekte einer Metawissenschaft, einer Naturwissenschaft sowie einer Ingenieurwissenschaft.
Wie die Philosophie und die Mathematik untersucht die Informatik allgemeine Kategorien wie Determinismus, Nichtdeterminismus, Zufall, Information, Wahrheit, Unwahrheit, Komplexität, Sprache, Beweis, Wissen, Kommunikation, Approximation, Algorithmus, Simulation usw.
Mehreren dieser Kategorien hat die Informatik einen neuen Inhalt und eine neue Bedeutung gegeben. Eine Naturwissenschaft studiert (im Unterschied zu Philosophie und Mathematik) konkrete physikalische Objekte und Prozesse, bestimmt die Grenze zwischen Möglichem und Unmöglichem und erforscht die quantitativen Gesetze der Naturprozesse. Die Naturwissenschaften modellieren also die Realität, analysieren die Modelle und überprüfen ihre Zuverlässigkeit in Experimenten.
Alle diese Gesichtspunkte einer Naturwissenschaft finden sich auch in der Informatik. Die Objekte sind Informationen und Algorithmen, und die Prozesse sind die physikalisch existierenden Prozesse der Informationsverarbeitung. Die historisch erste wichtige Forschungsfrage der Informatik war von philosophischer Bedeutung:
Existieren wohl definierte Aufgaben, die man automatisch (d.h. durch einen Rechner, unabhängig von der Leistungsfähigkeit heutiger oder zukünftiger Rechner) nicht lösen kann?
Die Bemühungen, diese Frage zu beantworten, führten zur Gründung der Informatik als selbstständige Wissenschaft. Die Antwort auf diese Frage ist positiv. Wir kennen viele bedeutsame Aufgaben, die man algorithmisch (automatisch) lösen möchte, die aber algorithmisch nicht lösbar sind. Man hat die Nichtexistenz solcher Programme mathematisch bewiesen. Man kann also Aufgaben danach einzuteilen, ob dafür ein Programm als algorithmische Lösung existiert oder nicht. Nun stellt sich die naturwissenschaftliche Frage:
«Wie schwer sind konkrete algorithmische Aufgaben?»
Die Schwierigkeit einer Aufgabe misst man aber nicht darin, wie schwer es ist, ein Programm dafür zu entwickeln oder wie umfangreich ein solches Programm ist. Die Schwierigkeit misst man in der Menge der Arbeit, die ein Rechner leisten muss, um die Aufgabe für konkrete Eingaben zu lösen. Man hat festgestellt, dass es beliebig schwere Aufgaben gibt, sogar solche, für deren Lösung man mehr Energie braucht, als im ganzen bekannten Universum zur Verfügung steht.
Es existieren also Aufgaben, für deren Lösung man zwar Programme schreiben kann, was aber nicht hilft, denn die Abarbeitung eines solchen Programms benötigt mehr Zeit, als etwa seit dem Urknall vergangen ist. Die blosse Existenz eines Programms bedeutet also nicht, dass diese Aufgabe praktisch algorithmisch lösbar ist.
Die Bemühungen der Informatik, die Aufgaben in praktisch lösbare und praktisch unlösbare zu unterteilen, führten zu äusserst faszinierenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Eine kleine Änderung in der Aufgabenstellung kann zur Folge haben, dass eine physikalisch nicht zu bewältigende Berechnung so stark vereinfacht wird, dass man sie mit einem gewöhnlichen PC in Sekundenbruchteilen durchführen kann. Über solche Wundereffekte bei Problemlösungen kann man mehr im Buch „Sieben Wunder der Informatik“ erfahren.
Trotz der naturwissenschaftlichen Aspekte der Informatik bleibt diese für die meisten Informatiker eine typische anwendungs- und problemorientierte Ingenieurwissenschaft. Die Informatik umfasst nicht nur die technischen Aspekte des Ingenieurwesens wie
Organisation des Entwicklungsprozesses (Phasen, Meilensteine, Dokumentation), Formulierung strategischer Ziele und einzuhaltender Grenzen, Modellierung, Beschreibung, Spezifikation, Qualitätssicherung, Testen, Einbettung in existierende Systeme, Wiederverwendung und Werkzeugunterstützung, sondern auch Führungsaspekte wie Team-Organisation und -Leitung, Kostenvoranschlag und Kostenaufschlüsselung, Planung, Produktivität, Qualitätsmanagement, Abschätzung von Zeitrahmen und Fristen, Zeit zur Markteinführung, Vertragsabschluss und Vermarktung.
Ein Informatiker muss auch ein Pragmatiker sein. Bei der Konstruktion komplexer Soft- oder Hardwaresysteme muss man Entscheidungen oft gefühlsmässig und aufgrund der Erfahrung treffen, weil man die komplexe Realität nicht vollständig analysieren und modellieren kann.
Die Informatik mit ihren mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen hat heute für die allgemeine Bildung eine mindestens so grosse Bedeutung wie die übrigen gymnasialen Fächer. Am besten sind die Bildungsbeiträge der Informatik mit jenen der Mathematik zu vergleichen, nicht nur, weil die angewandten Methoden mathematischer Art sind, sondern auch, weil die Kenntnisse der Kerninformatik eine allgemeine Bedeutung für die Lösung von Problemen haben.
Beispiele dafür sind nicht nur zufallsgesteuerte Systeme, sondern auch viele Anwendungen in der sicheren Kommunikation (Kryptographie). Bei der Vermittlung dieser Gebiete lernt man aufregende Probleme kennen, beim Lösen erlebt man viele Überraschungen. In diesem Sinn kann der Informatikunterricht den Mathematikunterricht bereichern.
Es bleibt die Frage, ob und wie man die praktischen, ingenieurwissenschaftlichen Teile der Informatik in die Allgemeinbildung einbringen kann. Diese sind viel bedeutsamer als das Erlernen der Rechnerhandhabung. Programmieren bedeutet beispielsweise, ein gewünschtes Verhalten so eindeutig wie möglich und in der Form eines Rezepts zu beschreiben, dass nicht nur ein Laie, sondern sogar die Maschine, bar jeder Intelligenz, die gewünschte Tätigkeit nach dem vorliegenden Rezept erfolgreich ausüben kann.
Diese Fertigkeit ist im Alltag immer gefragter, denn sie entspricht in gewissem Sinne der Fähigkeit, mit den Maschinen zu kommunizieren. Es ist sicher nicht zu unterschätzen, wenn Kinder und Jugendliche eine grosse Freude am Programmieren entwickeln. Das rührt daher, dass sie etwas entwerfen dürfen, das sie danach testen und durch Fehlersuche verbessern können. Die Erfahrung zeigt, dass es Grundschulkindern mit Begeisterung gelingt, die Grundlagen der Programmierung zu erlernen und selbstständig anzuwenden.
Einige Visionen schreiben dem Algorithmenentwurf und der Programmierung eine dem Lesen und Schreiben vergleichbare Bedeutung zu. Ob das zutrifft ist, wird die Zukunft zeigen. Aber im Zeitalter der Rechner und breiter Kommunikationsmöglichkeiten ist gerade die Informatik die Disziplin, die das tiefere Verständnis für all diese Prozesse der Informationsverarbeitung und -übertragung vermitteln kann.
Wir haben mehrere Gründe für eine stärkere Einbindung der Informatik in die allgemeine Bildung genannt. Die wichtigsten sind wohl die Interdisziplinarität der Informatik und die Verzahnung von mathematischer und ingenieurmässiger Denkweise. Informatik könnte gerade die Integration zwischen den Wissenschaftsgebieten fördern. Beim Einbezug der Informatik geht es nicht nur darum, die vor vielen Jahren entstandene Lücke in der Allgemeinbildung zu schliessen, sondern wesentliche Fortschritte in der Entwicklung unseres Bildungssystems zu machen.
Hinweis
Die ungekürzte Fassung dieses Beitrages finden Sie unter www.abz.inf.ethz.ch, Rubrik «Aktuelles»