Als ich mich Anfang der 2000er-Jahre für einen Berufsstart in der IT entschied, war die Branche eine Nische, bewohnt von jenen, die als Nerds abgestempelt und in den metaphorischen Keller der gesellschaftlichen Wahrnehmung gestellt wurden. Dann, fast über Nacht, wurde IT das grosse Ding. im Zuge der Digitalisierung rückten altbekannte Methoden wie Scrum, Kanban und Design Thinking in den Vordergrund, bunt aufbereitet, umbenannt und neu vermarktet. Unternehmen erklärten sich als «selbstlernend», Mitarbeitende sollten den «Entrepreneurial Mindset» verinnerlichen und Vorgesetzte wurden zu «Coaches» deklariert. Haben Sie diese Welle verpasst? Keine Sorge, der Trend änderte sich ohnehin rasch wieder.
In den frühen Tagen der IT-Revolution, als Anwälte und Banker plötzlich zu «Blockchain-Enthusiasten» wurden und die Technologie mit dem Internet gleichsetzten, war die Ironie für uns nicht zu übersehen. Doch es keimte Hoffnung: Vielleicht würde das wachsende Interesse an IT und unseren Arbeitsweisen auch die Aspekte, die wir so schätzten, in den Vordergrund rücken – Neugier, Hilfsbereitschaft, Leidenschaft, die Kultur der Open Source und flachere Hierarchien.
Tatsächlich sah es eine Zeit lang danach aus. Auf Konferenzen wurden Grössen wie Larry Page, Steve Wozniak und Jobs, Jeff Bezos und Elon Musk zitiert; ein regelrechter Silicon-Valley-Hype entflammte. Schweizer Manager pilgerten scharenweise nach Stanford und in die Bay Area, um zu lernen. Alle besuchten sie Mountainview und interessierten sich für die «Work Rules» von Google. Zu Hause wurden Innovationsveranstaltungen zu den neuen sozialen Treffpunkten, an denen man sich gegenseitig zu überbieten versuchte mit Visionen einer digitalen Zukunft.
Doch diese Zeit der euphorischen Zukunft und grossen Reden entpuppte sich bald als eine Blase, die vor allem durch niedrige Zinsen gestützt wurde. Kaum zeigten sich die ersten Risse, wurden Innovationsabteilungen geschlossen, Investitionsgelder sistiert oder ins Ausland verlagert und die Zusammenarbeit mit Startups läuft wieder durch die Mühlen der Bürokratie, die wir in Europa so lieben…
Wir wurden zwar erneut zum Weltinnovationsführer gekürt – mit einem Beitrag an die Forschung von fast 3 Prozent des BIP ist dies auch nicht verwegen –, jedoch stammt fast die Hälfte des Venture-Capital-Geldes, das in europäische Startups fliesst, aus den USA. Die Technologien, die wir in der Forschung erarbeiten, werden dann auch grosszügig von US-Firmen gekauft. Die Zahlen zeichnen ein Bild von einer transatlantischen Wirtschaft, die zwar eng verflochten ist, aber auch zeigt, wie sehr Europa von US-Kapital und dessen Wagemut abhängig ist. Es scheint fast so, als würde der amerikanische Geist des Machens durch unsere Adern fliessen, während wir auf dem alten Kontinent noch über die Risiken debattieren. Gerade in unsicheren Zeiten würde etwas mehr Wagemut und visionäres Unternehmertum die Wirtschaft ankurbeln und dazu führen, dass wir unsere Technologien selber kommerzialisieren.
In der Zwischenzeit ist es nicht mehr so einfach, die Personen zu finden, die an diesen grossen Visionen festhalten. Aber einige sind noch da. Sie reissen Mauern ein, tüfteln an neuen Projekten und überzeugen die Zögerlichen, ab und an auf eine Wild-Card zu setzen.
An die Zögerlichen und Abwartenden appelliere ich: Lasst euch auch in stürmischeren Zeiten von neuen Ideen inspirieren und setzt zumindest einmal im Jahr auf eine Wild-Card! In diesem Sinne: «Stay Hungry, Stay Foolish.»
Matthias Herrmann
Matthias Herrmann ist Investor, Unternehmer und Berater in den Bereichen Innovation, IT und Gesundheitswesen. Er leitet den Bereich Digital Health und den Digital-Health-Fonds bei der Firma
Tenity und ist als Experte für die Bereiche Life Sciences und ICT für die Innosuisse tätig. Er ist ausserdem Verwaltungsrat der NGO Make Me Smile International und unterstützt mehrere Start-ups im Advisory Board.