Das ICT-Berufsfeld ist mit einem geringen Frauenanteil und zunehmendem Fachkräftemangel konfrontiert. Das zwingt uns als Berufsbildungsverband und als Gesellschaft, Strukturen und Stereotype zu hinterfragen, die die Berufswahl von Mädchen beeinflussen. In diesem Zusammenhang haben sich die Frauen der Geschäftsstelle von ICT-Berufsbildung Schweiz gefragt, welche Herausforderungen sich dem Geschäftsführer gestellt hätten, wäre er als Frau zur Welt gekommen. Das Ergebnis macht nachdenklich.
Sergine Frech wird als Einzelkind in eine traditionelle Familie hineingeboren: Die Mutter ist Hausfrau, der Vater Unternehmer. Sergine spielt gerne mit männlich konnotierten Spielsachen. Lego, Playmobil und Spielzeugwaffen faszinieren sie ebenso wie Geheimagenten-Spielzeug. Während ihre Eltern sie gewähren lassen, stossen ihre Interessen bei Gleichaltrigen auf Unverständnis – sie muss lernen, mit Ausgrenzung umzugehen.
In der Schule gilt Sergine als Unruhestifterin und muss zweimal wiederholen. Mit 14 Jahren wechselt sie in ein Mädcheninternat. Dort erhält sie zwar die nötige Aufmerksamkeit, doch das starre Bildungssystem lässt wenig Raum für individuelle Stärken und Interessen. In ihrer Freizeit widmet sie sich dem Vollkontakt-Karate, wo sie als mehrfache Schweizermeisterin glänzt. Dennoch wird sie von ihren männlichen Trainingspartnern als Gegnerin oft nicht ernst genommen. Entmutigen lässt sie sich davon jedoch nicht.
Ein Meilenstein in Sergines Leben ist der Eintritt in die Rekrutenschule. Als Frau kann sie leider nicht zu den Grenadieren und es wird ihr empfohlen, zu einer weniger anspruchsvollen Truppe zu gehen. Frauen sind in der Armee generell unterrepräsentiert und werden zur Jahrtausendwende noch misstrauisch beäugt. Sergine durchläuft die Unteroffiziers- und Offiziersschule und arbeitet als Zeitmilitär. Bei Beförderungen wird ihr unterstellt, diese seien nur aufgrund persönlicher Beziehungen erfolgt. Die Militärakademie bricht sie ab, stattdessen leistet sie Auslandeinsätze im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Dort sieht sie die Folgen bewaffneter Konflikte für Frauen: Prostitution, Menschenhandel, Kriegsvergewaltigungen und Femizide.
Danach findet Sergine eine Anstellung als Ausbildungsleiterin beim militärischen Nachrichtendienst. Auch hier ist sie die einzige Frau in einer Kaderposition. Sechs Jahre später beschliesst sie, sich beruflich neu zu orientieren, weil sie an die gläserne Decke stösst. Sie wird Bildungschefin im Branchenverband der Gebäudetechnik, die für ihre patriarchale Struktur und den Mangel an weiblichen Fachkräften bekannt ist. Ein Regionsvertreter bringt die Einstellung vieler auf den Punkt: «Wenn den Frauen der Umgangston nicht passt, gehören sie eben nicht auf den Bau!»
2014 bringt Sergine einen Sohn zur Welt. Nach dem obligatorischen Mutterschutz kehrt sie in ihren Job zurück. Ihr Partner übernimmt die Kinderbetreuung und organisiert den Haushalt, wofür er von Freunden, Familie und anderen Müttern bewundert wird. Während Sergine sich weiterbildet und Karriere macht, werden ihr hingegen Schuldgefühle gemacht: Sie würde ihren Kindern zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit widmen. Sie könne ihre beruflichen und familiären Verpflichtungen nicht unter einen Hut bringen und würde entweder ihre Karriere oder ihre Familie vernachlässigen.
2018 wird Sergine Geschäftsführerin bei ICT-Berufsbildung Schweiz – ebenfalls ein Berufsfeld, in dem Frauen in der Minderheit sind. Und auch hier gibt es Stimmen, die das strategische Ziel des Verbands, mehr Frauen für ICT-Berufe zu gewinnen, ablehnen. Neben den Kritikerinnen und Kritikern gibt es jedoch wegweisende Initiativen, damit Frauen neue Technologien stärker mitprägen können. Denn das verbessert die Gleichberechtigung, fördert Innovation durch Vielfalt und verringert den Fachkräftemangel in der ICT.
Serge Frech
Kolumnist Serge Frech ist seit 2018 Geschäftsführer von ICT-Berufsbildung Schweiz. Zuvor war er in verschiedenen Führungspositionen im Bildungsumfeld tätig, zuletzt für den Gebäudetechnikverband Suissetec, wo er das Departement Bildung leitete und Mitglied der Geschäftsleitung war. Davor war er stellvertretender Chef Ausbildung im militärischen Nachrichtendienst.