Hyperautomation oder das kontinuierliche Automatisieren von repetitiver Arbeit ist durch neue Ansätze wie RPA (Robotic Process Automation) und iPaaS-Lösungen (Integration Platform as a Service) inzwischen für jedes Unternehmen greifbar geworden. Dies ist auch dringend notwendig, da man immer weniger gewillt ist, für die firmenweite Automatisierung einzig auf den Einsatz von teuren und proprietären, von der IT bereitgestellten Workflow- und Middleware-Systemen sowie Scripting-Werkzeugen zu setzen. Zurecht fragen sich Entscheidungsträger, ob solch komplexe und teure Projekte, ausser vielleicht für die Automatisierung von Kernprozessen, noch zeitgemäss sind.
Gerade RPA, aber auch iPaaS-Lösungen haben den grossen Vorteil, dass sie innert weniger Wochen eingeführt sind, eine firmenweite Automatisierung ermöglichen, rasch Wirkung erzielen sowie der Return on Investment (ROI) haargenau berechnet werden kann. Ferner setzen sowohl RPA als auch iPaaS auf einen Low-Code/No-Code-Ansatz. Die Idee hinter diesem Konzept: Eine umfassende Automatisierung, die auch durch Fachspezialisten ohne Kenntnisse in der Software-Entwicklung umgesetzt werden kann. Hyperautomation soll firmenweit und auch von den Fachabteilungen vorangetrieben werden.
Roboter – die zukünftigen Digital Worker im Unternehmen
Schauen wir uns die Robotic Process Automation einmal genauer an. Mit RPA kann ein Unternehmen nahezu alle repetitiven und regelbasierten Arbeiten automatisieren. Dabei übernehmen Software-Roboter (Bots), die auf einem Windows-Desktop installiert werden, die Steuerung von Maus und Tastatur – natürlich virtuell. Die Bots arbeiten ebenso wie menschliche Nutzer in Geschäftsapplikationen wie SAP, Dynamics FO, AS-400, auf Websites oder irgendeinem anderen System.
Da die Bots die Arbeit des Menschen an einem Windows-Desktop genau imitieren, sind die automatisierten Geschäftsapplikationen gar nicht in der Lage zu erkennen, dass nun Roboter und nicht mehr Menschen die Arbeit ausführen, oder dass nun Bots die Nutzer sind. Aufgrund dieser Tatsache benötigt die Automatisierung mit RPA keine Anpassungen an den zu automatisierenden Systemen und Applikationen, was die Abhängigkeit von der IT-Abteilung minimiert und natürlich keine entsprechenden Kosten verursacht. Zudem arbeiten Bots schnell und fehlerfrei rund um die Uhr.
Moderne RPA-Plattformen von Herstellern wie Uipath, Automation Anywhere oder Microsoft Power Automate, die im Forrester Wave RPA Report aktuell führend sind (mehr dazu ab Seite 30), finden sich in den Geschäftsapplikationen (zum Beispiel in Applikations-Fenstern, Masken-Feldern oder Schaltflächen) mittels generierter Selektoren zurecht. Diese Selektoren beschreiben und strukturieren die Inhalte des Bildschirms für die Bots. Werden Selektoren von den RPA-Plattformen nicht erkannt, zum Beispiel in einem Teilschritt eines Prozesses, wird eine durch künstliche Intelligenz (KI) getriebene Bilderkennung (Computer Vision) eingesetzt. Mit Computer Vision können Software-Roboter den Bildschirm als Bild wahrnehmen, auswerten und mit diesen Informationen die Geschäftsapplikationen steuern. Bots, die mit generierten Selektoren arbeiten, weisen heute jedoch noch eine höhere Stabilität auf und sind auch kosteneffizienter in der Umsetzung.
Alle führenden Hersteller bieten zudem eine Komponente für das Roboter-Management an, welche die Verwaltung und Steuerung sowie das Monitoring von mehreren hundert Robotern erlaubt. Diese Roboter-Management-Komponenten der RPA-Plattformen können On-Premises oder in der Cloud bereitgestellt werden.
Unattended und Attended Bots
Mit RPA gibt es grundsätzlich zwei Arten von Robotern. Die sogenannten Unattended Bots verrichten ihre Arbeit autonom im Hintergrund auf einem ausschliesslich für sie bereitgestellten Windows-Desktop. Diese Bots kommen in der Dunkelverarbeitung, beispielsweise im Rechnungs- und Debitorenwesen, zum Einsatz. Sie arbeiten überall dort, wo kein bis wenig Input von Menschen benötigt wird, und werden zentral über die angesprochenen Roboter-Management-Komponenten gesteuert. Interessant ist, dass jeder Durchlauf eines Unattended Bots protokolliert oder optional aufgezeichnet werden kann. Gerade bei Compliance-Themen im Banking oder in der Pharmaindustrie ist dies eine gefragte Funktion.
Die zweite Variante eines RPA-Roboters ist der sogenannte Attended Bot. Diese Bots dienen als persönliche Assistenten der Benutzer und werden für Teilschritte in Prozessen eingesetzt. Beispielsweise können diese Bots einem Call-Center-Agenten dabei helfen, Kundeninformationen aus verschiedenen Applikationen zusammenzutragen, um eine kompetente Beratung zu ermöglichen. Attended Bots werden immer von einem Nutzer gestartet und übernehmen den Windows-Desktop. Daher ist der Desktop während der Laufzeit, ausser er ist für einen speziellen Side-by-Side-Modus konfiguriert, für den Benutzer blockiert. Im Vergleich zu Bots in der Dunkelverarbeitung, die Stunden durcharbeiten können, haben Attended Bots deshalb in der Regel eher eine kurze Laufzeit.
Sprachlosigkeit und Unglauben
Auch für erfahrene Experten ist es nach dutzenden Automatisierungsprojekten weiterhin eindrücklich zu sehen, wie Bots ihre Arbeit aufnehmen. Ähnlich wie bei einem Pianola bewegt sich der Mauspfeil wie von Geisterhand am Bildschirm und Eingaben werden blitzschnell von Robotern in die Applikations-Masken übermittelt, während verschiedene Fenster über den Monitor flackern. Nicht selten reagieren Kunden mit einer Kombination aus Sprachlosigkeit und Unglauben. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass die vom Bot übernommenen Arbeiten teilweise über Jahre Klick für Klick von Hand ausgeführt wurden. Die kurzen Einführungszeiten von etwa sechs bis acht Wochen und die attraktiven Umsetzungskosten machen ebenfalls Eindruck.
Ein RPA-Projekt beginnt meistens mit dem Shadowing des Arbeitsablaufs. In einem virtuellen Meeting – die Konzeptions- und Umsetzungsarbeiten werden meistens zu 100 Prozent remote durchgeführt – wird aufgezeichnet, wie der Prozess derzeit ausgeführt wird. Anhand dieser Aufzeichnung und mittels weiterer Rückfragen bei der prozessverantwortlichen Person wird anschliessend das PDD (Process Definition Document) erarbeitet, das die Regelwerke zur Steuerung des Bots dokumentiert. Dieses PDD bildet dann wiederum die Grundlage für die Umsetzung des Bots.
Belege wie Rechnungen, Gutschriften, Bestellbestätigungen oder Lieferscheine werden bei den Lieferanten in verschiedenen Formaten (z.B. PDF, XLS, CSV, XML, Scans) automatisch via RPA und/oder iPaaS bezogen (1). Zum Lesen von bestimmten Belegen (z.B. Scans) wird ein Intelligent Document Processing (IDP) eingesetzt (2) und die entsprechenden Informationen über eine Anbindung mit RPA und/oder iPaaS in das ERP des Unternehmens eingelesen (3). Ein persönlicher Roboter hilft dem EInzelhandelsunternehmen als Assistent im Abwickeln der Bestellungen (Erfassen, Shipping, Zollanmeldungen, Rechnungsstellung, etc.) sowie im Customer Service (4). Und auch der Abgleich von Zahlungen mit der Bank wird durch einen Bot automatisiert (5). (Quelle: Automatify/Microsoft)
Ein Thema für jeden CFO
Ein wichtiges Argument für RPA, das auch bei jedem CFO durchschlagend wirkt, sind die kurzen Payback-Perioden. Für jeden Bot lässt sich sehr einfach der ROI berechnen, da die verschiedenen Parameter im Unternehmen bestens bekannt sind. Erfahrungen aus zahlreichen Automatisierungs-Initiativen zeigen zudem, dass Investitionen in einen Bot fast immer bereits im ersten Jahr vollständig amortisiert sind. Bei den ersten Bots wird die ROI-Berechnung im Rahmen von Pilot-Projekten nachgewiesen. Wenn eine RPA-Initiative in einem Unternehmen an Fahrt aufnimmt, wird ein ROI-Dashboard bereitgestellt, das Kennzahlen, wie zum Beispiel die Zeiteinsparungen aller Bots pro Tag oder historisiert, darstellt. Die entsprechenden Protokollierungsfunktionen für die KPI-Auswertungen sind Bestandteil jeder Bot-Umsetzung.
RPA-Initiativen werden mehrheitlich in unterstützenden Funktionen wie den Finanzen gestartet und breiten sich dann weiter im Unternehmen aus. Einige Beispiele für Automatisierungen mit Bots sind der Rechnungseingang, die Debitorenabrechnungen, der Abgleich mit der Bank, das Deviation Reporting in der Pharmaproduktion, das Verkehrsbussen-Management bei Autovermietern, das Membership On-Boarding in Treuepunkteprogrammen, das On-/Offboarding von Mitarbeitenden im HR, der Bezug von Rechnungen, Lieferscheinen oder Garantieabrechnungen in Lieferantenportalen und verschiedene Call-Center-Anwendungsfälle.
Process Discovery und Intelligent Document Processing (IDP)
Neben RPA und iPaaS sind das Process Discovery und das Intelligent Document Processing (IDP) weitere Trends in der Hyperautomation. Beim Process Discovery helfen Process-Mining- und Task-Mining-Werkzeuge die Automatisierungspotenziale in einem Unternehmen zu finden. So visualisieren und analysieren Process-Mining-Tools zum Beispiel die Datenflüsse im ERP und decken so Automatisierungspotenziale auf. Beim Task Mining werden die manuellen Arbeitsschritte, die durch eine Person auf dem Windows-Desktop durchgeführt werden, aufgezeichnet. Diese Aufzeichnungen können durch Spezialisten ausgewertet werden und geben Auskunft über mögliche Automatisierungspotenziale. Die Hersteller arbeiten auch daran, anhand der Aufzeichnungen Rohgerüste zum Beispiel für Software-Roboter zu generieren, um den entsprechenden Parametrisierungs- und Entwicklungsaufwand zu reduzieren.
Da bei den meisten Geschäftsprozessen auch Dokumente zwischen Firmen ausgetauscht werden, beinhalten die führenden RPA-Plattformen Module für das Intelligent Document Processing. Mit künstlicher Intelligenz können so Geschäftsdokumente wie Lieferantenrechnungen, Debitorenabrechnungen, Auftragsbestätigungen, aber auch Ausweise oder Strafzettel gelesen und die Daten für die weitere Verarbeitung durch Roboter oder iPaaS-Plattformen bereitgestellt werden. Gerade im IDP wurden in den letzten Monaten beachtliche Fortschritte erzielt. Die Erkennungsrate von strukturierten Geschäftsdokumenten ist, mit von den Herstellern vortrainierten KI-Modellen, überraschend gut. Für die Verarbeitung von weniger strukturierteren Geschäftsdokumenten wie zum Beispiel Verträgen, bieten sich KI-Modelle mit Natural Language Processing (NLP) an, die gerade weltweit für Furore sorgen.
Automatisierung durch Nutzung von APIs
Für die Automatisierung von Prozessen, bei denen die involvierten Applikationen sogenannte Application Programming Interfaces (APIs) oder Programmierschnittstellen bereitstellen, bietet sich neben RPA auch die Verwendung von iPaaS-Lösungen oder die Kombination von RPA mit iPaaS an. iPaaS-Plattformen wie zum Beispiel Boomi, Workato oder Microsoft Azure Integration Services bieten eine Vielzahl von Templates und Konnektoren an, um Applikationen und Systeme mit einem Low-Code/No-Code-Ansatz anzubinden und die Orchestrierung von Automatisierungen zu ermöglichen.
Die Anbindung von Applikationen via APIs ist insbesondere bei hohen Transaktionsvolumen und statischen Schnittstellen sinnvoll. Es ist zudem erwähnenswert, dass die führenden RPA-Anbieter neben reinem RPA auch API-Automatisierung anbieten und die führenden iPaaS-Lösungen für ihre integrierten RPA-Komponenten werben. Ob beide Bereiche in Zukunft abschliessend von einem Hersteller abgedeckt werden können bleibt abzuwarten.
Kombination von RPA und iPaaS
Es fällt auf, dass gerade im firmeninternen Datenaustausch zwischen verschiedenen Systemen und Geschäftsapplikationen, die in der Hoheit der IT stehen, bevorzugt ein API-First-Ansatz zur Anwendung kommt. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass die Einführung einer iPaaS-Lösung, die mit API-First wirbt, doch aufwendiger ist als eine reine RPA-Lösung. Optimal, aber erst ab einer gewissen Maturität in einer Automatisierungs-Initiative, ist sicherlich die Kombination beider Ansätze. Auf diese Weise können Teile der Prozesse mit einem API-First- oder User-Interface-Automation-Ansatz gelöst werden. Wo dies nicht möglich ist, wird zielführend mit RPA automatisiert.
Ein Beispiel für eine erfolgreiche Kombination ist die Automatisierung eines Einzelhandelsunternehmens, das hunderte OEM-Lieferanten anbinden und in einen internen ERP-Prozess einbinden muss. Die Geschäftsprozesse auf Seiten der Lieferanten beinhalten zum Beispiel den Download und die Verarbeitung von Rechnungen, Bestellbestätigungen, Lieferscheinen, Gutschriften und Garantiefällen. Diese werden von den Lieferanten unter anderem in ihren Portalen bereitgestellt. Bieten diese Portale nur User-Interfaces an, können die Belege mit RPA automatisiert und über das Lieferantenportal abgerufen werden. Für Lieferanten, die APIs anbieten, kann für die Integration entsprechend ein iPaaS Connector konfiguriert werden. Die Belege, egal ob als PDF-Dokumente, Excel-Dateien oder XML-Files, werden dann von den Bots oder dem iPaaS Connector in das ERP importiert, das ebenfalls über einen Connector an die iPaaS-Lösung angebunden ist.
Was hat sich bewährt?
Viele Firmen starten ihre Automatisierungs-Initiative mit RPA. Mit einer guten Strategie erzielen sie in kurzer Zeit beachtliche Zeit- und Kosteneinsparungen und ihre involvierten Mitarbeiter können sich auf wertschöpfendere Tätigkeiten fokussieren. Diese Erfolge begeistern und fördern so weitere Prozessautomatisierungen. Es gibt jedoch auch ein wachsendes Interesse an der Kombination von RPA mit iPaaS-Lösungen.
Viele Unternehmen würden vermutlich den API-First-Ansatz bevorzugen. Aufgrund der Vielzahl an Geschäftsapplikationen und Systemen ist der reine API-First-Ansatz für die firmenweite Automatisierung, zumindest heute, jedoch kaum umsetzbar. Cloud-Dienste und die voranschreitende Modernisierung von Geschäftsanwendungen werden iPaaS-Plattformen und somit den API-First-Ansatz allerdings weiter stärken.
Der Autor
André Heymann ist Mitgründer der Firma
Automatify mit Hauptsitz in Zürich sowie einem Entwicklungs-Hub in Cluj-Napoca (Rumänien). Automatify ist ein Beratungs- und Umsetzungsdienstleister für Prozessautomatisierungen mit RPA und iPaaS-Lösungen der Hersteller Uipath, Automation Anywhere, Microsoft und Boomi.
André Heymann ist Mitgründer der Firma Automatify. (Quelle: Automatify)