Kaum ein Schweizer Wirtschaftszweig geniesst ausserhalb der Landesgrenzen ein so grosses Renommee wie die Uhrenindustrie. Angesiedelt ist dieses traditionelle Handwerk vornehmlich in der Romandie mit Ausläufern bis nach Schaffhausen. Stammte gegen Ende der 1960er Jahre noch fast die Hälfte aller weltweit produzierten Uhren aus der Schweiz, brachte das Aufkommen günstiger Quarzuhren aus dem Ausland die hiesige Industrie mit ihrem Fokus auf mechanische Zeitmesser in den 1970er- und frühen 80er-Jahren praktisch zum Erliegen. Erst allmählich erholte sie sich und fand Mitte der 90er-Jahre mit der Swatch zurück zu alter Grösse.
Heute sind Schweizer Uhren rund um den Globus wieder sehr gefragt – ein Umstand, den sich Thomas Baillod zu Nutze gemacht hat. Der in La Chaux-de-Fonds geborene Baillod arbeitete viele Jahre für grosse Schweizer Uhrenhersteller, in denen er sowohl die Weltwirtschaftskrise von 2008 als auch das Aufkommen des E-Commerce miterlebte, der die Uhrenindustrie nachhaltig prägen sollte. Diese Entwicklungen veranlassten ihn schliesslich, das klassische Vertriebsmodell der Uhrenbranche zu hinterfragen und im Oktober 2019 das eigene Start-up Ba111od mit Sitz in Neuchâtel zu gründen. Das Ziel: hochwertige mechanische Uhren zu produzieren, Made in Switzerland und zu erschwinglichen Preisen – dank einem komplett neuen Distributionsmodell.
Die Uhr als Nebenprodukt
Die Motivation, mit eigenen Produkten ins Uhren-Business einzusteigen, entstand bei Thomas Baillod aus der Ablehnung, die seiner Vision aus der Branche entgegenschlug: «Ich war während rund 15 Jahren in der Uhrenindustrie tätig und habe für grosse Hersteller weltweite Vertriebsnetzwerke aufgebaut. Ich wollte aber weiterdenken, und zwar nicht, wie man Uhren produziert, sondern wie man sie verkauft. Während meiner Tätigkeit als Gründer und Dozent der Watch Trade Academy entstand die Idee einer neuen Herangehensweise an die Distribution. Ich habe dieses Konzept mehreren Unternehmen unterbreitet, aber sie haben meine Theorie nicht ganz verstanden und waren deshalb nicht daran interessiert.»
Baillod jedoch war so sehr von seiner neuen Distributionsstrategie überzeugt, dass er kurzerhand beschloss, eigene Uhren zu produzieren. Heute, rund zwei Jahre nach der Gründung von Ba111od, hat das kleine Start-up bereits vier Kollektionen mit den schlichten Namen Kapitel 1 bis 4 herausgegeben. Wie der Firmengründer jedoch betont, war es nicht seine Absicht, eine Uhrenmarke zu begründen: «Ich wollte meine Theorie beweisen und habe dafür eine Uhr als Produkt gewählt, weil ich in diesem Sektor am meisten Erfahrung habe.»
Die ersten Uhren von Ba111od, die Kapitel 1 und 2, bestehen aus Bauteilen, die aus dem Ausland in die Schweiz importiert und hier veredelt werden: In Neuchâtel werden die Uhrwerke von Uhrmachern komplett demontiert und nach einem Aufbereitungsprozess wieder assembliert. Ab der Kapitel 3 werden alle Uhren mit Schweizer Komponenten ausgestattet und tragen das Label Swiss Made. Dabei arbeitet das Start-up mit einer ganzen Reihe von Zulieferern zusammen.
Die Kapitel 4.1 T.V.D. ist eine Tourbillon für unter 4500 Franken. (Quelle: Ba111od)
Sparen ohne Abstriche bei der Qualität
Mit seinen ersten Modellen war Ba111od bisher erfolgreich, wie der CEO erklärt. Dies habe auch Kritiker auf den Plan gerufen, vor allem aufgrund der vergleichsweise günstigen Preise der Uhren. Ein wiederkehrender Kritikpunkt ist, man könne zu diesen Preisen keine hochwertigen Uhren produzieren, schon gar nicht in der Schweiz und mit dem Gütesiegel Swiss Made. Dem will Thomas Baillod nun mit der Kapitel 4 entgegnen, die das Unternehmen im April auf den Markt bringen wird. Es handelt sich dabei um das erste Modell von Ba111od, das zu 100 Prozent Swiss Made ist, eine Tourbillon aus hochwertigen Materialien für weniger als 4500 Franken – ein Kampfpreis, denn Zeitmesser mit solchen Uhrwerken können auch ein Zehnfaches davon kosten.
Möglich ist dies nur durch eine radikale Kostenreduktion. Dabei will Baillod aber nicht bei der Produktion sparen: «Wir haben die neue Tourbillon in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern entwickelt. Sie wird also komplett in der Schweiz hergestellt, von Spezialisten, die auch für andere Uhrenmarken arbeiten. Ihnen zahlen wir einen fairen Preis für ihre Arbeit. Das ist auch der Grund, weshalb sie sogleich zugesagt haben. Sparen wollen wir an anderer Stelle.»
Neue Wege der Vermarktung
Mylène Thiébaud, bei Ba111od verantwortlich für das Business Development in der DACH-Region, erklärt die Strategie des Start-ups folgendermassen: «Zum einen verzichten wir auf die klassische Distribution, die einen Grossteil der Kosten ausmacht, und ausserdem auch auf eine riesige Marge. Wir wollen unser Geschäft über das Volumen und Luxus für alle erschwinglich machen.» Und der CEO fügt an: «Weltweit Läden zu unterhalten, Marketing zu betreiben und Distributoren zu bezahlen verschlingt rund 65 Prozent des Verkaufspreises. Das ist enorm und mit ein Grund, weshalb hochwertige Uhren Luxusgüter sind.»
Die klassische Distribution mache zwar Sinn, denn Kunden könnten in einem Geschäft eine Uhr anschauen und sich beraten lassen. Die Kehrseite seien aber die hohen Kosten für diese Dienstleistung. «Der E-Commerce ist das Gegenteil davon», so Baillod weiter. «Er ist sehr gut für die Marge, jedoch sehr schlecht für die Customer Experience, denn letztendlich geht es dabei nur um die Transaktion – die Bedürfnisse der Kunden stehen selten im Fokus.» Online sei die Marge jedoch 300 bis 400 Prozent höher als bei einem Verkauf über die Distribution. Laut Thomas Baillod sind beide Modelle für sich genommen nicht sehr fruchtbar. Anders sehe es jedoch aus, wenn man diese kombiniere: «Wir nutzen ein Vermarktungskonzept, das phygital ist, eine Wortkombination, welche die physische Welt mit den Vorzügen des digitalen E-Commerce vereint. Das widerspiegelt auch der Markenname Ba111od.»
Eine Community aus Afluendors
Ganz ohne Marketing kommt aber auch Ba111od nicht aus. Hierfür vertraut das Start-up auf seine Kunden. «Eine spezielle Uhr am Handgelenk eines Menschen wird vom Gegenüber oft wahrgenommen», erklärt Thomas Baillod. «Meist folgt dann die Frage, um welche Uhrenmarke es sich handelt. Und genau an diesem Punkt setzen wir an. Wir bauen darauf, dass die Träger einer Ba111od die Geschichte dahinter erzählen und so ihre Zuhörer für das Produkt begeistern.»
Hier kommt die hauseigene App des Uhrenherstellers zum Zug. Jeder Kunde verfügt nach der Registrierung in der App über einen eigenen Online-Shop, über den er die Uhren zeigen und weiterempfehlen kann. «Der Kunde wird so zum Wiederverkäufer, wenn er das denn will. Die Nutzung der App und des eigenen Online-Shops ist natürlich optional», erklärt Baillod. Und Mylène Thiébaud fügt an: «Vielfach landen potenzielle Kunden bei Unternehmen auf der Website und finden nüchterne Produktinformationen vor, bei uns treffen sie auf die Kunden-Community, die sich über die App, die Website und über Social Media rege und leidenschaftlich über unsere Produkte austauscht.» Damit soll die Neugierde für die Uhren geweckt werden. Dahinter steckt die Annahme, dass diese eher den Erfahrungen bestehender Kunden glauben als bezahlten Influencern oder einer Produktbeschreibung auf einer Website.
Die Kunden von Ba111od erhalten über die App ein Wiederverkaufsrecht für eine beschränkte Anzahl Uhren des Start-ups und für jede vermittelte Uhr Tokens, die ihnen verschiedene Vorteile verschaffen –wie beispielsweise weitere Uhren gratis zu erhalten. Sie werden somit zu dem, was Ba111od Afluendors nennt, ein Akronym aus den drei Begriffen Ambassadors (Botschafter), Influencer und Vendors (Verkäufer).
Die Kunden sollen nicht nur Endverbraucher sein, das Unternehmen will mit ihnen über die App in einen direkten Dialog treten. Und nicht nur das: die App bietet auch eine interaktive Karte, auf der angezeigt wird, wo sich in unmittelbarer Nähe weitere Afluendors aufhalten. Diese können sich so gegenseitig kontaktieren und sich beispielsweise auf einen Kaffee treffen und sich über ihre Uhren-Leidenschaft austauschen. Gemäss Thomas Baillod funktioniert das Konzept bisher gut, rund die Hälfte der Kunden seien in der App registriert.
Über die Grenzen und die Branche hinaus
Die grösste Herausforderung besteht für Ba111od nun darin, sich auch jenseits der Romandie zu etablieren. Noch verkauft das Start-up dort rund 90 Prozent aller Uhren. Auch deshalb hat man Mylène Thiébaud an Bord geholt. Sie, die an der Zürcher ETH studiert hat, soll den Deutschschweizer Markt erschliessen sowie den DACH-Raum. Wie eingangs erwähnt sind die Uhren von Ba111od aber hauptsächlich ein willkommenes Nebenprodukt. Zentral ist das Distributionsmodell mit dem dazugehörigen Ökosystem, das Thomas Baillod bereits einem Winzer im Wallis verkaufen konnte. Auch ein grosser Deutschschweizer Uhrenhersteller soll Interesse bekundet haben.
«Mit Ba111od wird es weitergehen, wir planen bereits die nächsten drei Kapitel. Doch ging es für uns hauptsächlich darum, Transparenz zu schaffen und die richtigen Akteure ins Rampenlicht zu rücken – die Kunden und die Zulieferer. Neben den Uhren lassen sich auch unsere Plattform und das Distributionskonzept weiter kommerzialisieren», betont Baillod. «Die Schweizer Uhrenindustrie ist ein grosser Kuchen mit einem Umsatz von rund 20 Milliarden Franken, das Potenzial ist also gross genug.» Und er rechnet damit, dass sein Konzept auch in anderen Branchen Anklang finden wird.
(luc)