Editorial

Vom Prügelknaben MS zum Sündenbock EU


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/16

     

Die Kulturgeschichte ist voll von leidenschaftlichen Streithähnen: Statler & Waldorf aus der Muppetshow, Jack Lemmon und Walter Matthau als «Grumpy old men», Hochwürden Don Camillo und sein bürgerlicher Gegenspieler Peppone... die illustre Liste liesse sich fast beliebig weiterführen und erhält in jüngster Zeit wieder prominenten Zuwachs.

Auch Steve Ballmer und Neelie Kroes respektive Microsoft und die EU-Kommission können voneinander nicht lassen. Was vor Jahren mit einem Streit um die Integration des Windows Media Player ins Betriebssystem begann und zwischenzeitlich mit der Verhängung von Rekordbussgeldern und Einschränkungen bei der Windows-Entwicklung gipfelte, findet nun seine Fortsetzung mit der potentiellen Verzögerung des Windows-Vista-Releases. Die EU und ihre Auflagen, die vielleicht noch kämen, seien Schuld daran, wenn Vista in Europa weitere Verspätung erhielte behauptet Microsoft (siehe Seite 12).



«Tatsächlich?», fragt sich da der geneigte Leser. Was auf den ersten Blick einleuchtet, erhält bei genauerem Hinsehen und spätestens mit der Reaktion der EU-Kommission einen schalen Beigeschmack. Diese sei nämlich keineswegs dafür zuständig, Microsoft grünes Licht für einen Produktlaunch zu erteilen, wie das EU-Pressebüro umgehend ausrichten lässt. Und damit hat die Kommission zweifellos recht.

Schliesslich wäre es auch das erste Mal, dass Microsoft sich um die Auflagen der EU scheren würde. Im ursprünglichen Streitfall vergingen Jahre und wurden Strafgelder in mehrstelliger Millionenhöhe verhängt, bis Microsoft endlich (halbwegs und halbherzig) einlenkte. Von einer vollständigen Umsetzung der verhängten Auflagen sind die Redmonder derweil noch immer meilenweit entfernt.



Und nun verstecken sich die Mannen um Steve Ballmer scheinheilig hinter dem Argument, die Beamten in Brüssel würden halt nicht damit herausrücken, was sie von Microsoft und ihrem Vista überhaupt wollten. Als ob man das in Redmond nicht genau wüsste! Und als ob das in Redmond tatsächlich jemanden interessierte!

Das Manöver hat einen ganz anderen Hintergrund: Microsoft hat es schlicht satt, weiterhin den Sündenbock zu geben, und die EU steht quasi auf Abruf als Prügelknabe bereit. Offen bleibt bloss, ob der clevere PR-Schachzug der prophylaktischen Benennung eines neuen Sündenbocks bereits weitere Vista-Verschiebungen ankündigt.




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