Wir Schweizer sind Mimosen
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/04
Der sogenannte Think Tank «Avenir Suisse» liest der Schweizer Informatik die Leviten. Wir sind das Land mit den höchsten ICT-Ausgaben pro Kopf, liegen aber am Schluss der Rangliste, wenn es um die Produktivitäts- und Gewinnsteigerungen aus den neuen Technologien geht. Die wirtschaftsliberalen Vordenker orten vier Hauptursachen für dieses ökonomisch höchst problematische Missverhältnis: die schweizerische Faszination für die Technik an sich, der relative Reichtum, der Hang zum Perfektionismus sowie die Bevorzugung der technischen Entwicklung vor den realen Kundenbedürfnissen.
Dieser Befund ist alles andere als revolutionär. Die Wirtschaftsinformatiker der Hochschule St. Gallen predigen seit Jahren Kundenorientierung und technischen Pragmatismus, und die meisten Informatikverantwortlichen dürften dies inzwischen auch verstanden haben. Es gibt offensichtlich noch eine zusätzliche, Schweiz-spezifische Eigenschaft, die uns daran hindert, unseren Technologieeinsatz wirtschaftlich zu optimieren. Zumal die meisten der von «Avenir Suisse» genannten Ursachen nicht an sich negativ sind – Schnitt!
Vor einer Woche bezeichnete ein deutsches Jury-Mitglied in der urschweizerisch gefärbten Version der Casting-Show «Music Star» die mittelmässige, selbstzufriedene Darbietung eines verwöhnten Vorstädters mit harten Worten als das, was sie war. Die Folge: Der bis dahin mässig beliebte Kandidat wurde von einer gesamtschweizerischen Sympathiewelle in die nächste Runde gespült. Im Boulevard-Blatt «Blick» füllen sich seither die Leserbriefspalten mit erzürnten Ausfällen gegen den ausländischen Nestbeschmutzer. Dieser zeigt sich irritiert: In Deutschland hätte ein solches Statement kaum Aufsehen erregt.
Mit anderen Worten: Wir Schweizer sind Mimosen. Wir tun uns schwer mit hart
formulierter Kritik. Dem Frieden zuliebe wird das Positive betont, statt offensichtliche Schwächen beim Namen zu nennen. Eine schlechte Vorraussetzung, wenn man sich verbessern will – und genau dies behindert auch die wirtschaftliche Optimierung des Technologieeinsatzes.
Daniel Meierhans, Chefredaktor