Die kommende vierte Schicht

Business Process Management stösst langsam in den innovativen Mittelstand vor. Es soll als zusätzliche Architekturschicht die IT mit den Geschäftsprozessen verbinden.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/17

     

Um Schlagworte waren die IT-Anbieter und die von deren technischen Innovationskraft lebende Beratergilde noch nie verlegen. Zu den Zauberworten mit dem grössten Imaginationsgehalt derzeit gehört Business Process Management (BPM). Es verspricht der Geschäftsleitung nicht mehr und nicht weniger als die integrale Kontrolle über die Geschäftsprozesse eines Unternehmens. Die IT-Architekten ihrerseits sehen in BPM die langersehnte Killerapplikation für die Web-Services-Technologien. SOA (Service Oriented Architecture) und Web Services werden dadurch mit einem übergeordneten Sinn gefüllt, denn BPM legt sich als zusätzliche Schicht über die IT und verbindet diese mit dem Business.
So spricht der ehemalige Compaq-CIO und heutige Verwaltungsratsvorsitzende des BPM-Spezialisten Fuegotech, John W. White, denn auch von der vierten Abstraktionsschicht einer kommenden «four-tiered architecture». Über diese Virtualisierung der Geschäftsprozesse sollen die Unternehmen fähig werden, sich flexibler an die sich immer schneller ändernden Marktbedingungen anzupassen. Für Axel Jacobs, Vice President Consulting der Meta Group Deutschland, ist der Druck zur Anpassungsfähigkeit, der in den gesättigten Märkten heute auf den Unternehmen lastet, denn auch der Haupttreiber für die derzeitige BPM-Welle. Und diese Welle schwappt, wie jüngste Markterhebungen zeigen, immer mehr von den Grossunternehmen auch auf die mittelständischen Betriebe über.






Gemäss Jacobs sind derzeit nicht nur Grossunternehmen, sondern auch innovative, international ausgerichtete Mittelstandsfirmen daran, ihre IT- und Geschäftsprozesse über eine BPM-Schicht zu koppeln und in einem Regelkreis zu schliessen. Die Marktforscher von IDC schätzen, dass sich in Westeuropa derzeit 16 Prozent aller Unternehmen mit der Umsetzung von BPM beschäftigen. Bei den Grosskonzernen liegt der Anteil bereits bei 30 Prozent. Die Delphi Group hat für das Jahr 2003 ein BPM-Investitionsvolumen von 550 Millionen Dollar errechnet. Die jährliche Steigerungsrate soll zwischen 15 und 30 Prozent liegen.


Ein alter Managerwunsch

Dabei ist BPM keinesfalls eine moderne Erfindung. Wirtschaftstheoretiker sprechen von der dritten Welle, die derzeit über die Unternehmen schwappt. Die Wurzeln gehen bis in die Anfänge des letzten Jahrhunderts zurück, als Arbeitsprozesse erstmals theoretisch beschrieben wurden. Denn mit der Beschreibung der Prozesse war schon immer der Wunsch verbunden, diese auch kontrollieren und optimieren zu können. Dass die Unternehmen ihre Prozesse beherrschen wollen, ist letztendlich eine Selbstverständlichkeit. Nicht beherrschte Prozesse führen zu vermehrten Qualitätsbeanstandungen, längerer «time to market», Probleme mit Lieferfristen, höheren Produktionskosten und Lagerbeständen, mehr Änderungen und weniger Flexibilität.





Die Frage lautet demnach nicht, ob BPM Sinn macht, sondern ob die heutigen technischen Mittel in der Lage sind, Geschäftsprozesse durchgängig abzubilden, und vor allem, ob die IT-Integrationstechniken die nötige Flexibilität erreicht haben. Denn um optimieren zu können, müssen die Systeme anpassungsfähig sein. Dafür muss, gemäss der gängigen Lehrmeinung, die gesamte IT-Architektur in Richtung SOA umgebaut werden, mit dem Ziel, einzelne, als Web Services zur Verfügung gestellte Funktionalitäten standardisiert und schnell zu neuen Anwendungen zusammensetzen zu können.




Geschäfts- und IT-Prozesse im Regelkreis geschlossen


Aus Fehlern gelernt

Laut Jacobs war die nötige Middleware- und Integrationstechnik grundsätzlich schon zur Jahrtausendwende vorhanden. Damals scheiterten aber die meisten Integrationsprojekte an der Komplexität der Aufgabenstellung. Heute sei die Marktreife aber deutlich höher und zudem habe man aus den Fehlern gelernt. So ist vor allem das Projektmanagement durch die kostspieligen Desaster der Boom-Jahre professioneller geworden. Statt alles auf einmal und sofort, ist «Think big, start small» zum Credo im Projektgeschäft geworden. Zudem stehen immer mehr «Best Practices» zur Verfügung, an denen sich die Projektverantwortlichen orientieren können.
Diese Fortschritte im Projektmanagement zeigt auch der zweijährliche Chaos-Report der Candish Group auf, der die Anteile von erfolgreichen, gescheiterten und nicht zur vollen Zufriedenheit beendeten IT-Projekte weltweit erfasst. Demnach stieg die Zahl der erfolgreichen Projekte von 1994 bis 2002 mehr oder weniger linear von 16 auf 34 Prozent. Im Gegenzug nahm der Anteil der gescheiterten Projekte von 31 auf 15 Prozent sehr stark ab.


Standards als Fundament

Auf der technischen Seite hilft die zunehmende Standardisierung die Komplexität der Integration zu vermindern. Mit J2EE und .Net hat sich in den letzten Jahren die Zahl der in Zukunft relevanten Plattformen praktisch auf zwei reduziert. Zudem einigt sich die Industrie heute meist relativ schnell auf die relevanten Web Services Standards. Vor allem, wenn sich IBM und Microsoft einig werden, steht einer Standardisierung meist nur mehr wenig im Wege. So auch im Fall des Orchestrierungsstandards: BPEL (Business Process Execution Language) hat mit der Unterstützung vom Microsoft, IBM, SAP, Bea Systems und Oracle die Auseinandersetzung mit dem schärfsten Konkurrenten BPML (Business Process Modeling Language) um die massgebende Sprache zur Verknüpfung einzelner Web-Services-Komponenten heute praktisch für sich entschieden.





Trotz der grundsätzlich vorhandenen Techniken sehen viele Analysten zur Zeit aber auch noch bedeutende Löcher in den Angeboten. So sind die traditionellen Integrationsanbieter, laut Jess Thompson von der Gartner Group, noch zu sehr mit der IT-Legacy beschäftigt und vernachlässigen in ihren Ansätzen die Komponente Mensch. Denn BPM ist zwar ohne entsprechende Integrationstechniken nicht denkbar, aber die eigentlich in einem Regelkreis zu managenden Geschäftsprozesse betreffen vor allem auch alle beteiligten Mitarbeiter. Gartner empfiehlt darum den Unternehmen, einen Chief Process Officer einzusetzen, der die zentrale Verantwortung für die Geschäftsprozesse übernimmt. Die Prozesse selber sollen dabei unbedingt in den Abteilungen bleiben. Die IT hat zwar die vielleicht komplexeste Aufgabe auf dem Weg zu BPM zu lösen. Sie ist aber nur ein Werkzeug. Grossen Unternehmen legt die Gartner Group zudem nahe, in der IT ein Kompetenzzentrum Integration und in den Abteilungen Prozesszentren einzurichten.






Gemäss Jacobs unterstehen allerdings in rund zwei Drittel aller Unternehmen die Geschäftsprozesse dem CIO, was von den Informatikverantwortlichen eine entsprechende Kompetenz erfordert. Auch Jacobs ist der Meinung, dass diese Konstellation nicht optimal ist. Der CIO sollte seiner Meinung nach besser ein Geschäftsprozessstimulator sein, in dem er beispielsweise die IT-Möglichkeiten in einzelnen Unternehmensbereichen aufzeigt.


IT-interne Gründe

Für BPM sprechen aber nicht nur Business-Gründe. Auch die Informatik selber hat ein Interesse an einer Architektur, die ihr Instrumente in die Hand gibt, um die stetig steigende Komplexität in den Griff zu bekommen. Viele historisch gewachsene IT-Abteilungen sehen in SOA ein probates Mittel, um den immer komplexer und aufwendiger werdenden Betrieb der Applikationen zu vereinfachen. Die Einführung von Managementtechniken erlaubt zudem eine kontrollierte Optimierung der Informatik.





In einem grösseren Zusammenhang betrachtet, steht BPM als eine von vielen Techniken, mit der die IT zu einem Mittel zum Zweck gemacht werden soll. Zusammen mit Technologien wie Web Services, SAN (Storage Area Network), ILM (Information Lifecycle Management), Grid Computing, ECM (Enterprise Content Management) und MDA (Model Driven Architecture) sind SOA und BPM die Grundlage von Visionen wie Utility Computing, Adaptive Enterprise oder on Demand Computing.


Preis und ROI

So wünschbar BPM aus theoretischer Sicht sein mag, heute kann keine Investition mehr durchgesetzt werden, ohne dass die Kosten und vor allem der ROI (Return on Investment) bekannt sind. Bei den Kosten gibt die Delphi Group grobe Schätzungen ab. Demnach muss mit einem Aufwand von mindestens einer Million Dollar gerechnet werden. Alles darunter sei als Pilotprojekt zu betrachten, so die Marktforscher. Anhand dieser Zahl kommt die Delphi Group heute auf eine Verhältnis von 78 Prozent Pilotprojekten zu 22 Prozent wirklichen BPM-Implemantationen.
In Sachen ROI verspricht BPM erst eher langfristig eine Rendite. Jacobs rechnet auf Grund der hohen Anfangsinvestitionen mit 3 bis 6 Jahren. Dies ist vor allem für den Mittelstand eine sehr lange Zeitspanne. Der starke derzeitige Compliance-Druck setzt allerdings die ROI-Hürde tiefer. Denn um den neuen Anforderungen wie Basel II oder Sarbanes-Oxeley nachkommen zu können, sind die Unternehmen so oder so gezwungen, ihre Prozesse auch digital in den Griff zu bekommen. Die Compliance-Anforderungen gelten denn auch neben dem wirtschaftlichen Druck zu flexibleren Prozessstrukturen als zweiter grosser Business-Treiber für BPM. Mit BPM lassen sich diese zwei Fliegen auf einen Streich schlagen.


Damit BPM funktioniert


• Intensiv die Anforderungen und Dringlichkeiten auf der Business-Seite charakterisieren


• Sponsoren in der Geschäftsleitung und den Abteilungen finden


• Nötige Veränderungstiefe und künftige Architektur der IT definieren


• Veränderungspfad der IT
bestimmen


• Arbeitspakete festlegen, die realistisch abgearbeitet werden können (Komplexitätsfalle)


• Techniken und Anbieter auswählen




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