Eine dezentrale Organisation entscheidet sich für VoIP
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/11
VoIP (Voice over IP) ist in der Schweiz immer noch hauptsächlich ein Medienthema. Langsam aber sicher entscheiden sich jedoch immer mehr Unternehmen für die Internet-Telefonie. Vor allem wenn eine Ablösung der bisherigen Telefonzentrale ansteht, wird VoIP heute fast immer zumindest zum Thema. So auch bei der Krankenkasse CSS. Sie musste sich nach einer neuen Telefoninfrastruktur umschauen, weil der bisherige Centrex-Dienst von Swisscom auf Ende 2004 abgeschaltet wird.
InfoWeek begleitet den zuständigen Projektleiter Urs Häsler in einer mehrteiligen Serie und versucht dabei auch Entscheidungsalternativen sowie Fallstricke eines solchen Projekts aufzuzeigen. So werden beispielsweise die Sicherheitsmechanismen besprochen, mit denen sich die CSS vor den Folgen eines Scheiterns des Projekts schützt, sowie die Folgeprojekte, welche die VoIP-Einführung nach sich zieht. Der erste Teil widmet sich dem Technologieentscheid und den Vorbereitungen des Projekts. In einem zweiten Teil wird im Juni der Beta-Test des neuen Systems analysiert. Im Oktober folgt, sofern alles nach Plan verläuft, die Darstellung der abgeschlossenen Migration mit einer ersten Auswertung. Ende Jahr werden wir Urs Häsler noch einmal besuchen und mit ihm die VoIP-Einführung im Rückblick beleuchten.
Als Urs Häsler Mitte Januar 2004 als Projektleiter Unternehmensentwicklung zur Krankenversicherung CSS stiess, lag schon in einer der ersten Sitzungen das Dossier «Centrex-Ablösung» auf dem Tisch. Damals bot sich ein für viele derartige Projekte recht typisches Bild. Weil sich niemand konkret zuständig fühlte und die Verantwortung übernommen hatte, war das Projekt monatelang nur durch einen externen Berater und ohne den nötigen internen Druck vorangebracht worden. Es bestand dringender Handlungsbedarf, denn Swisscom hatte beschlossen, die virtuelle, netzbasierte Telefonvermittlungsdienstleistung Centrex abzuschalten, auf die man sich bisher bei CSS verlassen hatte. Der Vertrag war im Oktober 2003 auf Ende 2004 gekündigt worden, ein Ersatz müsste also vor diesem Termin produktiv sein. Hauptcharakteristikum der CSS bezüglich Telefonie: eine auf insgesamt 250 Standorte Schweiz-weit verteilte Organisation, die eine zentrale interne Vermittlungsmöglichkeit braucht.
Da durch den dezentralen Charakter von Centrex innerhalb der CSS keine eigentliche Telefonabteilung aufgebaut worden war und sich weder IT noch Liegenschaftsunterhalt um die Aufgabe rissen, war Häslers spontanes Interesse am Projekt umso willkommener. Und so übernahm er Ende Januar die Centrex-Ablösung vom externen Berater. Dieser hatte mit seinen seit rund einem Jahr andauernden Arbeiten schon stark Richtung VoIP vorgespurt. Insgesamt hatte er schon alle praktisch möglichen Varianten geprüft und 15 Offerten eingeholt.
Häsler nahm als erstes die Projektorganisation in die Hand. Durch diese sollte die Umstellung in allen betroffenen Abteilungen des Unternehmens verankert und vor allem auch die klare Unterstützung der Geschäftsleitung (GL) sichergestellt werden. Am 3. Februar wurde in einem Kick-off-Meeting das Organigramm der Centrex-Ablösung entworfen. Die Struktur wurde über ein Steuerungsgremium direkt dem Finanzchef unterstellt. In die Organisation eingebunden wurden die IT, die Telekom-Infrastruktur, die Call Center, die Dokumentebereitstellung, der Vertrieb (Agenturen), das Controlling und der bisher federführende externe Berater.
Parallel dazu musste so schnell wie möglich ein Fahrplan (siehe Seitenspalte) erstellt werden, um den Zeitdruck nicht noch mehr anwachsen zu lassen. In diesen sollten auch GL-Entscheidungen eingebaut sein, um die Rückendeckung für die grundlegenden Schritte sicherzustellen. Bis zum 19. Februar musste ein detaillierter Antrag zur Variantenwahl mit Fahrplan für die entscheidende GL-Sitzung am 24. Februar stehen.
Grundsätzlich standen aufgrund der Vorarbeiten des externen Beraters vier mögliche Szenarien zur Auswahl: nichts tun, eine herkömmliche PBX-Installation sowie eine zentralisierte oder eine dezentrale VoIP-Variante. Vom rein finanziellen Aspekt schnitten dabei in einer ersten Grobanalyse über einen Zeitraum von fünf Jahren gerechnet die Varianten zentrale VoIP und «nichts tun» am besten ab.
Gegen die dezentrale VoIP-Lösung sprachen neben rein finanziellen Aspekten auch Komplexitätsgründe und die unvermeidliche Neunumerierung der einzelnen Apparate. Auch nichts zu unternehmen, kam aus grundsätzlichen Überlegungen nicht in Frage, denn damit wäre beispielsweise das interne Weiterleiten von Telefongesprächen nicht mehr möglich gewesen. Nicht einmal mehr die Teams hätten untereinander Anrufe übernehmen können. Diese Möglichkeit wurde aber als Referenzszenario in vergleichbarem Detaillierungsgrad ausgearbeitet.
So blieben die Varianten konventionell und zentralisiertes VoIP. Auf konventionellem Weg wäre eine Vielzahl dezentraler Telefonzentralen nötig geworden. Zudem, und das war letztlich der entscheidende Punkt, das Risiko einer relativ jungen Technologie auf sich zu nehmen, versprach VoIP vor allem bei einer späteren Einbindung der Call Center (diese sind von der Umstellung nicht betroffen und funktionieren bis auf weiteres konventionell) für die Zukunft wesentlich mehr Potential für Funktionalitäten wie eine Integration von CRM-Funktionen.
Um vor einem ersten Grundsatzentscheid auszutesten, ob VoIP technisch überhaupt einsatzfähig ist, waren bereits per 10. Februar erste VoIP-Geräte in zwei Test-Agenturen installiert worden. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit nicht VoIP-konformen Routern zeigte sich, dass diese die gewünschte Sprachqualität liefern können.
Anforderungen an die CSS-Telefonanlage
Auf Grund der Vorabklärungen wurde der Geschäftsleitung am 24. Februar ein Antrag für einen VoIP-Umstieg gestellt. Die Geschäftsleitung stellte sich trotz potentiell grösserer Risiken klar hinter die neue Technik, weil sie insbesondere bei einer späteren Einbindung der Call Center für die Zukunft mehr versprach. Dabei haben auch die verschiedenen Ausstiegsszenarien eine Rolle gespielt, die das Projektrisiko auf ein Minimum begrenzen. Schliesslich würde der Betrieb, auch wenn gar nichts unternommen würde, nicht einfach zusammenbrechen, sondern nur mühsamer werden, wie die Variante «nichts tun» aufzeigte. In einem Vorvertrag mit Swisscom wurde zudem ein Beta-Test vereinbart, an dessen Ende eine Go/No-Go-Entscheidung eingeplant ist. Erweist sich VoIP dabei als für die CSS tauglich, muss die Versicherung die Kosten des Beta-Tests berappen, wenn sie sich trotzdem aus dem Vertrag zurückziehen will. Zeigt sich in diesem Test, dass die Systeme im Alltag nicht die erwartete Leistung bringen, muss Swisscom die Testkosten übernehmen.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der für VoIP sprach, war die Möglichkeit eine Schweiz-weit einheitliche Vorwahl für alle CSS-Geschäftsstellen einführen zu können. Dieser unter Umständen auf starke interne Opposition stossende Entscheid wurde von Häsler aber bewusst vom eigentlichen VoIP-Projekt entkoppelt. Schliesslich war von den Agenturen ein gewisser Widerstand zu erwarten, weil damit die regionale Verankerung der Agenturnummern verlorengeht. Eine Ablehnung hätte bei einem gekoppelten Vorgehen unnötige negative Emotionen auf das VoIP-Projekt geleitet. So wurde der Ball an das Marketing weitergeleitet, das prüfte, ob eine Teilzentralisierung mit sprachregionaler Nummeranbindung oder eine vollständige Zentralisierung den Geschäftsbedürfnissen besser entspricht. Das Marketing kam zum Schluss, dass eine zentrale 058-er-Vorwahl, die von der Geographie unabhängig ist, die beste Lösung sei. Die zentrale, vom geografischen Standpunkt unabhängige Vorwahl bringt zudem noch einen weiteren organisatorischen Vorteil. So war auch die Kommunizierbarkeit der Änderung (einfach, einheitlich und ausnahmefrei) mit Ausschlaggebend.
Nach dem grundsätzlichen GL-Entscheid pro VoIP galt es, die Lieferanten auszuwählen. Zwei Kandidaten waren aus dem Evaluationsverfahren des aussenstehenden Beraters als mögliche Kandidaten übriggeblieben: Nortel und Cisco. Beide bewarben sich mit unterschiedlichen Swisscom-Abteilungen als Implementationspartner. Nortel offerierte mit Swisscom Systems. Cisco trat mit seinem strategischen VoIP-Partner Swisscom Enterprise Solutions an.
Bei der Lieferantenwahl hatte ein strategischer Punkt grosses Gewicht, der vom eigentlichen Umstellungsprojekt noch ausgeschlossen war. Die VoIP-Installation sollte auch bei einer in den nächsten zwei Jahren geplanten Umstellung der Call Center möglichst unproblematisch sein und möglichst viel Nutzen bringen. Während Nortel als traditioneller PBX-Hersteller, von dem auch die bei CSS in verschiedenen Bereichen schon eingesetzten Meridian-Anlagen stammen, eine harmonischere Migration und einen gemischten Betrieb versprach, bot Cisco eine einheitliche Hardware-Plattform für Sprache und Daten mit entsprechend geringeren Verwaltungskosten an. Für Cisco sprach zudem das klare Commitment von Swisscom Enterprise Solutions, dem bisherigen strategischen Netzwerkpartner der CSS-IT-Abteilung. Der Preis beider Angebote lag in derselben Grössenordnung. Bei der Abwägung der Argumente fiel ihm aber nicht das entscheidende Gewicht zu. Ausschlaggebend waren vielmehr strategische Überlegungen. Denn auch in Sachen Funktionalität und Zukunftsaussichten konnte Cisco letztendlich das Projektteam mehr überzeugen, so dass die Amerikaner den Zuschlag bekamen.
Der VoIP-Entscheid hat für CSS aber auch eine ganze Reihe indirekter Folgen. So mussten die Bandbreiten aller Aussenstellen erhöht werden, um VoIP-fähig zu werden. CSS entschied sich darum, das WAN unternehmensweit von einem Gemisch aus Frame Relay und IPSS auf das IPSS-Angebot (Internet Protocol Standard Services) von Swisscom umzustellen und gleichzeitig die Bandbreiten der Aussenstellen abhängig von deren Grösse von heute zwischen 128 Kbps und 2 Mbps auf mindestens 256 Kbps bis maximal 4 Mbps zu erhöhen.
Das kostenintensivste Teilprojekt der Centrex-Ablösung ist aber die Anpassung aller Dokumente und Drucksachen, weil parallel mit der Umstellung auch die Schweiz-weite Vereinheitlichung der Nummern auf die Vorwahl 058 beschlossen wurde. Alleine der Neudruck der Visitenkarten für rund 1000 CSS-Mitarbeiter schlägt dabei mit rund 150'000 Franken zu Buche. Neben dem Unternehmensnetzwerk und der Dokumentenanpassung musste auch die Anbindung der Call Center, die im ersten Umstellungsschritt noch nicht einbezogen werden, sowie verschiedene nötige Anpassungen in der Haustechnik in der Planung berücksichtigt werden.