Editorial

Das glückliche Ende der Exponentialkurve


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/06

     

Mit der IT sei das so wie mit einer Wolke, dozierte der US-Zukunftsguru Ray Kurzweil im ­Rahmen seiner Keynote an den x.days in Interlaken. Man könne zwar die Bewegung eines einzelnen Wassermoleküls im Wolkennebel nicht genau vorherbestimmen – wie sich die Wolke als Ganzes verhalte, sei aber sehr genau voraussagbar. Und dann pflasterte der Technologie-Prophet ­reihenweise Folien an die Wand, die alle nur eines belegen sollten: Der IT-Fortschritt, ja die ganze Weltgeschichte ist eine einzige grosse Exponentialfunktion.




Ganz abgesehen vom Propaganda-Charakter dieses Korsetts ist Kurzweils Grundannahme schlicht falsch: In der IT lässt sich nämlich im Gegensatz zur Wetterwolke der Fortschritt der einzelnen Komponenten wie die Prozessorleistung (Gesetz von Moore), die Speicherdichte oder die Netzwerkgeschwindigkeit recht genau vorhersagen. Wie die Gesellschaft damit aber umgehen wird, ist ein soziales Phänomen und damit ähnlich wie die Börsenkurse praktisch nicht vorhersehbar.



Die anwesenden IT-Profis fühlten sich denn auch durch die Exponentialkurven-Orgie des US-Redners eher gelangweilt als angeregt. Irgendwie erinnerte das Ganze zu stark an die unendlichen Wachstumsgraphiken und Geldvermehrungsprognosen, mit denen die Dotcom-Schwätzer den Investoren noch vor sechs Jahren das Geld aus der Tasche gezogen hatten. Slide-Titel wie «2010:
Der PC verschwindet» berührten einen vor dem Hintergrund der Geschichte dieser letzten
sechs Jahre schon beinahe peinlich.




Die Anwender sind aber offensichtlich nicht mehr so blauäugig wie ehedem. Trotz augenfälliger Wachstumszufriedenheit, die in praktisch allen Gesichtern auszumachen ist, bleiben sie heute
im Gegensatz zum Dotcom-Boom pragmatisch. Sie haben gelernt, dass mit PowerPoint jeder ­Minimaleffekt zum vierfarbigen Maximal-Gap aufgeblasen werden kann, und sie lassen sich
nicht mehr von Zahlenbergen und einem grossen Namen beeindrucken, wenn dahinter kaum Inhalte stecken.

Dies lässt hoffen, dass der jetzt kommende Aufschwung eine wirklich produktive Zeit und keine weitere Technologie-Blase wird.




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